14. November 2020 · 11:33
Das ist das dickste wissenschaftliche Buch zu einem geschichtlichen Thema, das ich je las. Es dauerte auch einige Zeit, bis ich fertig war, nämlich ein halbes Jahr. Allerdings las ich parallel dazu immer auch andere Bücher, setzte sogar zeitweise ganz mit der Lektüre aus.
Wandernde Heere
Ich hatte von der Völkerwanderung eine recht vage Vorstellung. Damit räumte Mischa Meier gründlich auf. Schon die Annahme, da seien irgendwelche Völker von der asiatischen Steppe oder anderen Ausgangsgebieten plötzlich aufgebrochen, jahrelang „gewandert“ und dann über das römische Weltreich hergefallen, ist ein Unsinn. Die Idee von „Völkern“ stammt aus Zeiten, wo der Nationalismus mit seinen Grundannahmen das Denken der Menschen und damit auch der Wissenschaftler einfärbte, hat aber keine historische Grundlage. Was da „wanderte“, waren mehr oder weniger große, mehr oder weniger heterogene Heere unter mehr oder weniger charismatischen und berühmten Heerführern wie etwa Attila. Je erfolgreicher diese Heere waren, desto mehr Kämpfer schlossen sich ihnen unterwegs an, sodass ziemlich bunte Truppen entstanden, deren Anführer unter immer ärgerem Erfolgsdruck standen. Blieb der Erfolg aus, zerfielen diese Heere samt ihrem Anhang manchmal sehr schnell, sodass „Völker“ mir nichts, dir nichts wieder aus der Weltgeschichte verschwinden.
Siedlungs- und Heiratspolitik
Einigen Heerführern allerdings gelang es, der Dynamik der ständigen Neueroberung und Weiterwanderung zu entkommen und ihre Leute im Gebiet des Römischen Weltreichs anzusiedeln. Besonders erfolgreich war da Theoderich der Große, der seine Ostgoten, nachdem sie Italien großteils erobert hatten, dort tatsächlich ansiedeln und ein über längere Zeit stabiles Ostgotenreich errichten konnte. Allerdings wechselte er nicht etwa die ansässige römische Bevölkerung gegen Ostgoten aus, sondern es kam zu einer Kooperation: Die Ostgoten bekamen Land von den Römern, natürlich nicht freiwillig, aber mit solchem Augenmaß, dass sowohl die Römer als auch die Goten ein Auskommen hatten. Außerdem versuchte Theoderich, durch eine geschickte Heiratspolitik ein internationales Beziehungsnetz mit anderen Reichen zu knüpfen, das sein Reich stabilisierte, ja, ihn zu einer Art Primus inter Pares machen sollte. Nach seinem Tod folgten allerdings nicht ganz so fähige Herrscher, sodass das Ostgotenreich schließlich erobert wurde – von den Franken, der aufstrebenden Großmacht am Ende der Völkerwanderung.
Auch Ostrom ausführlich behandelt
Meier greift in seiner Darstellung bis ins 3. Jahrhundert zurück und beendet sie mit dem 8. Jahrhundert. Man verfolgt die Entwicklung so bekannter „Völker“ wie der Ost- und Westgoten, der Hunnen, der Awaren, der Vandalen, der Burgunder und Franken, aber auch weniger geläufiger Gruppierungen wie der Terwingen, Greutungen, Sueben oder Thüringer. Doch auch wenn die westliche Hälfte des römischen Reiches die größere Aufmerksamkeit erfährt, weil sich da einfach mehr tut, behandelt Meier auch das Schicksal des Oströmischen Reiches in der genannten Zeitspanne sehr genau. Vor allem die ständige Verstrickung in Kriege mit den Sassaniden und deren Randvölkern, bis schließlich die Araber erstarken und die Sassaniden hinwegfegen, aber auch Ostrom herbe Verluste zufügen.
Attraktives Ziel für „Barbaren“
Die römische Strategie im Umgang mit Bedrohungen von Barbarenvölkern war, diese bereits vor den Grenzen des Reiches ruhigzustellen, indem man ihnen Fördergelder zukommen ließ, damit sie keinen Anlass mehr hätten, sich innerhalb der Grenzen des römischen Reiches bereichern zu wollen. Allerdings bewirkte diese Strategie auf längere Sicht ein Erstarken einzelner Fürsten, die dann wieder zur Gefahr werden konnten. Immerhin war das römische Reich ein äußerst attraktives Ziel für Barbaren (auch dieser Begriff wird natürlich in extenso problematisiert), denen nicht verborgen blieb, in welchem Wohlstand die Römer lebten, und die daher an diesem Reichtum partizipieren wollten. Waren die Barbaren nicht mehr „draußen“ zu halten, versuchten die Römer sie nach Möglichkeit in ihr Heer zu integrieren, sodass nicht selten Barbaren-Einheiten auf römischer Seite gegen ihre barbarischen „Volks“-Genossen auf der Gegenseite kämpften.
Problematische Quellenlage
Ein Problem, das Meier immer wieder ausführlich behandelt, ist die sehr mangelhafte Quellenlage. Barbarische Geschichtsschreibung gab es kaum, sodass der Historiker meist auf römische Quellen, archäologische Funde und neuerdings DNA-Analysen (die Verwandtschaften von Skeletten aus Gräbern nachweisen kann) angewiesen ist. Angesichts der spärlichen Quellen ist es geradezu erstaunlich, was man da alles herausbekommen hat. Meier weist immer wieder darauf hin, dass vielfach auch mehr herausgelesen wurde, als in den Quellen wirklich steht. Heute ist die Historiker-Zunft da wesentlich vorsichtiger als zu früheren Zeiten.
Schockierende Brutalität
Aufgrund der spärlichen Quellen ist es kein Wunder, dass Meier relativ wenig über Lebensweise, Alltag, Sitten und Kultur der Barbaren zu sagen hat. Am ehesten weiß man noch etwas von den Anführern. Schockierendes Detail zum Beispiel: Ein Westgotenkönig gibt seine Tochter einem Vandalenkönig zur Frau. Die Frau lässt sich irgendetwas zuschulden kommen (politisches Intrigantinnentum), sodass sie der Vandale als abschreckendes Beispiel nach Hause schickt: mit abgehackten Händen und abgeschnittenen Ohren und Nase, glaube ich mich zu erinnern (Meier erwähnt das mehrfach, meist aber nur summarisch: sie sei „verstümmelt“ worden; einmal jedoch wird er konkreter).
Dass man in diesem Zeitalter mit den Feinden oft nicht zimperlich umgegangen ist, darf einen nicht wundern. Immer wieder werden grausige Exempel statuiert, und zwar von allen Parteien. Andererseits verlaufen viele Feldzüge bei weitem weniger blutig, als man meinen könnte, weil oft noch rechtzeitig ein ordentlicher Geldfluss ausverhandelt werden konnte. Die Römer bemühten sich dabei immer, nicht als irgendjemandem tributpflichtig zu erscheinen.
Monumentales, aber lesbares Buch
Meiers monumentales Buch ist schwierig zu lesen, manche Formulierungen gehen einem mit der Zeit schon ein bisschen auf die Nerven (z. B. wird immer wieder irgendein Anführer, ein Heer oder gar ein ganzes Reich „niedergerungen“), aber insgesamt ist das Werk durchaus lesbar, sofern man eine gehörige Portion Konzentration und Durchhaltevermögen aufbringt. Man wird für die Anstrengung mit einem überaus differenzierten Bild einer Epoche belohnt, von der wohl die meisten Menschen – so wie ich – aus ihrer Schulzeit eine viel zu vereinfachende Vorstellung mitbringen.
Das Buch umfasst insgesamt 1530 Seiten, der Text reicht aber nur bis Seite 1103, danach folgen unendliche Mengen von Anmerkungen und ein äußerst umfangreiches Literaturverzeichnis. Solche Stoffmengen zu überblicken und daraus eine gute Gesamtdarstellung zu destillieren, ist eine Meisterleistung.
Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr. C. H. Beck, München, 2019. Reihe: Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. 1530 Seiten, einige Abbildungen.
Bild: Wolfgang Krisai: Das Heidentor bei Petronell. Kohlezeichnung, 2005.
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