Kürzlich trat die Zeitschrift „Bücher“ an mich heran, ob ich nicht für die Rubrik „Blogger über Bücher“ eine Rezension schreiben wolle. Ich sagte zu, und im jetzt erschienenen Heft April/Mai 2014 steht auf Seite 43 mein Text. Er durfte nur 1100 Zeichen lang sein. Hier im Blog bin ich nicht auf diese Kürze beschränkt, daher folgt jetzt die „Langfassung“ meiner Rezension von Franz Hohlers Roman „Gleis 4“:
So etwas wie ein Krimi über Waisenkinder
Franz Hohler kann ein zu Lachkrämpfen animierender Humorist sein, dieser Roman aber ist ernst und macht bewusst, unter welch erniedrigenden Umständen auch in der Schweiz noch der Fünfzigerjahre Waisenkinder leben mussten.
Allerdings braucht es lang, bis man hinter dieses Anliegen des Buchs kommt, denn zunächst lässt es sich wie ein Krimi an. Auf dem Zürcher Bahnhof wird die Altenpflegerin Isabelle, die gerade zögert, einen schweren Koffer die Stiegen hinaufzuschleppen, von einem freundlichen Herrn gefragt, ob er ihr den Koffer tragen dürfe. Sie lehnt nicht ab – und damit nimmt eine überraschende Handlung ihren Lauf.
Am oberen Ende der Stiege klappt der Herr nämlich plötzlich zusammen und ist tot. Sein letztes Wort: „Bitte…“. Rettung, Polizei. Einvernahme. Da Isabelle ein wenig verwirrt ist, vergisst sie ganz, der Polizei eine Mappe des Verstorbenen auszuhändigen, die noch auf ihrem Koffer liegt. So gelangt die Mappe in Isabelles Hände, die sie zunächst auf den Flughafen mitnimmt, wo ihr Flugzeug aber schon abgeflogen ist. Kurzerhand bläst sie den ganzen Urlaub ab, zu dem sie aufbrechen wollte, und bleibt zu Hause.
Am Abend läutet ein Handy – in der ominösen Mappe des Fremden. Isabelle lädt es auf, da es fast keinen Akku mehr hat. Als weitere Anrufe kommen, hebt sie ab und hört eine mürrische Männerstimme, sie solle Marcel ausrichten, er solle sich in Nordheim nicht blicken lassen.
Nordheim ist aber der Zürcher Friedhof. Isabelle geht am nächsten Tag hin, zu drei Begräbnissen – und beim dritten wird sie fündig: Ein finsterer Herr fragt sie, was sie da zu suchen habe, und sie sagt, sie sei die Freundin von Marcel, den sie hier vertrete. Es fehlt wenig, dass der Kerl handgreiflich wird.
Von der Polizei erfährt Isabelle, dass der Tote identifiziert wurde, seltsamer Weise als ein Martin Blancpain aus Kanada, und seine Frau Véronique bereits auf dem Weg in die Schweiz sei. Mit dieser trifft sich Isabelle, und die beiden freunden sich ein wenig an. Und machen sich gemeinsam daran, in die Véronique gänzlich unbekannte Vergangenheit Blancpains einzudringen. Isabelles halbafrikanische Tochter Sarah hilft den beiden dabei.
Schritt für Schritt kommt nun eine „dunkle Vergangenheit“ des Toten zu Tage, deren böse Schatten schließlich aber nicht ihn, sondern seine „Brüder“ treffen.
Leise Irritationen
Hohler erzählt alles in knapper, klarer Sprache, die man schnell liest. Die Handlung packt durch ihre leisen Irritationen: Warum gibt Isabelle die Mappe nicht gleich zur Polizei? Warum lässt sie sich auf die Telefonate mit dem fremden Handy ein?
Bald keimt im Leser der Verdacht, dass Isabelle vielleicht doch nicht ganz zufällig mit Marcel zusammengetroffen sei…
Franz Hohler: Gleis 4. Roman. Luchterhand, München, 2013. 220 Seiten.
Schönen Dank, habe mit Interesse vom Buch gelesen, das ich nicht lesen möchte. Hatte schon einmal den Versuch gemacht, kam aber nicht „rein“.
Gruß von Sonja
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Liebe Sonja!
Das ist literarische Arbeitsteilung zwischen Bloggern und sehr praktisch. Man muss nicht alles selbst lesen. Zwischen meiner Frau und mir funktioniert das übrigens auch sehr gut. Dir fehlt nun aber das Ende, das ich in meinem privaten Lesetagebuch, wovon dieser Blog ein Auszug ist, beschrieben habe. Soll ich dir die ganze Beschreibung mailen, oder hast du schon „genug“ von „Gleis 4“?
lg, Wolfgang
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Nein, das brauche ich nicht, da ich Bücher, die ich nicht ganz lese, einfach quer lese, d.h. Anfang, Mitte, Ende….
Aber schönen Dank für das freundliche Angebot!
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