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Melissa Faliveno: Tomboyland

Wolfgang Krisai: "Ex libris". Porträt von Melissa Faliveno. Tuschestift, Buntstift. 2017.

Ich kenne wenige Menschen, die Schriftsteller*in sind, persönlich. Melissa Faliveno ist eine von ihnen, und noch dazu eine, die ich unter außergewöhnlichen Umständen, nämlich durch zwei zufällige Begegnungen auf der Fähre am East River zwischen Brooklyn und Manhattan, kennengelernt habe. 

Klar, wenn Melissa ein Buch schreibt, muss ich es kaufen und lesen. Im Sommer 2020 war es so weit: Ihr erstes Buch, der Essayband „Tomboyland“, erschien, ich kaufte ihn und las ihn bis im Spätsommer fertig.

Das Buch ist eine sehr interessante Essaysammlung, deren Titel eigentlich perfekt andeutet, worum es gehen wird. Tomboy nennt man eine Person, die zwischen Frau und Mann changiert. Melissa ist so ein Mensch, wie im Essay „Tomboy“ ausführlich dargestellt wird. Und -land? Gemeint ist das Land, aus dem Melissa stammt: Wisconsin. Das „home“ dieses Tomboys. Für meine Ohren klingt es überraschend, wie eine so durch und durch „moderne“ Frau geradezu romantisch und sehnsüchtig von ihrer Heimat spricht, einer Gegend im konservativen, agrarischen Mittleren Westen, in der es für Persönlichkeiten wie sie realistisch gesehen gar keinen Platz gibt und von der sie, obwohl sie seit mehr als zehn Jahren in Brooklyn lebt, innerlich nicht loskommt und loskommen will. Immer noch denkt sie, wenn sie ihr „home“ meint, an Wisconsin und den kleinen Ort, aus dem sie stammt. 

Die Essays kreisen also einerseits um sie, vor allem um ihre Gender-Identität und die mit deren Unsicherheit verbundenen Schwierigkeiten, andererseits um ihr „homeland“.

Die Folgen eines verheerenden Tornados

Der erste Essay erzählt von einer Naturkatastrophe, die den Nachbarort Barnveld im Jahr 1984 heimgesucht hat: Ein Tornado zog exakt über den Ort hinweg und verwüstete ihn vollständig. Man erfährt nun, wie die Menschen mit diesem Desaster fertig wurden: Manche hatten Verwandte oder Freunde verloren, die unter den zum Glück wenigen Opfern des Sturms waren; viele mussten ihr Haus wieder aufbauen; manche erzählen von der großen Hilfsbereitschaft, die die Menschen im Ort nach der Katastrophe zusammenschweißte; manche von ihrem Einsatz als Rettungsfahrer oder Krankenschwester; manche von den nicht enden wollenden Spätfolgen des Traumas. Faliveno hat hier offenbar ausführlich recherchiert und mit vielen Zeugen des Unglücks gesprochen.

Die Autorin – ein „Tomboy“

Dann folgt „Tomboy“, ein langer Essay, der einen äußerst interessanten Einblick in das Leben und Fühlen eines Menschen gibt, der zwar offiziell eine Frau ist und gegenwärtig mit einem Mann zusammenlebt, der aber keine klare Geschlechtsidentität hat, sondern zwischen Mann und Frau changiert. Die Anfangsszene des Essays ist geradezu lustig: Melissa trifft sich mit einer neuen Bekannten in einer Bar, wo sich an deren lasziver Kleidung erweist, dass diese das Treffen als ein „Date“ zwischen zwei Lesben verstanden hat. Als Melissa ihr sagt, sie lebe in einer festen Beziehung, und das mit einem Mann, ist die Reaktion: „To say I watched her face fall would be an understatement. It plummeted headlong off a cliff into a swamp of disbelief and despair. ‚No‘, she said […]. She looked at me, shook her head, and said: ‚I can’t believe you’re straight‘.“ (S. 42)

Danach beleuchtet Faliveno viele Aspekte:

Das Mädchen vom Land, das sich wie ein Bub benimmt und dem man das auch nachsieht, solange es noch nicht in der Pubertät ist; die junge Frau in Brooklyn, die von irgendwelchen Passanten angepöbelt wird, weil sie ein wenig wie ein Mann aussieht; Bisexualität und Homosexualität; die Reaktionen von Verwandten, Freunden, aber auch Fremden auf ihr Transgender-Aussehen – und vor allem ihre eigene Unsicherheit angesichts ihrer Gender-Fluidity. 

Die Beziehung zu Motten

In dem kurzen Essay „Of a Moth“ geht es um ungebetene Gäste, die man nicht loswird: die Motten in der Wohnung. Der ganze Essay hat einen lustigen Grundton, denn obzwar die Motten sich mit keiner noch so gefinkelten Methode endgültig ausrotten lassen, sind sie doch kein so widerliches Ungeziefer wie etwa die Küchenschaben. Ja, mit der Zeit gewöhnt man sich an die herumschwirrenden Plagegeistert und bedauert es geradezu, wenn sich wieder einmal eine von ihnen in seltsamer Hypnose der abends im Zimmer brennenden Kerze nähert und – zisch! – in der Flamme verbrennt.

Von Baseball und Bisexualität

„Switch-Hitter“ erzählt von Melissa als bisexueller Sportlerin. Ein Switch-Hitter ist, klärt mich dictionary.com auf, „baseball: a batsman who can hit either right- or left-handed. slang: a bisexual person“. Für sie als knabenhaftes Mädchen lag es nahe, sich im Sport zu verwirklichen. Baseball war ein Männersport, da gab es keinen Zugang, aber Softball wurde zu ihrer Lieblingssportart. Der Sport bedeutete Verausgabung, vollen Einsatz, Erfolg und Misserfolg, Kameradschaft und Gemeinschaft. Und außerdem bot der Mannschaftssport die Gelegenheit, mit ähnlich gearteten Mädchen zusammenzukommen und Freundschaft zu schließen. Melissa betreibt natürlich nicht nur Softball, sondern auch andere Sportarten wie etwas Gewichtheben. Zur wirklichen Profisportlerin fehlt ihr allerdings der letzte Biss. Zwar hat einer ihrer Trainer gesagt: „You’ll make it if you want it“ (S. 108), doch als es darum geht, in eine Universitäts-Mannschaft aufgenommen zu werden, versagt sie überraschend. Daraufhin hört sie mit dem Softball auf – und beginnt zu trinken. Auch das schildert sie ganz offen. Vom Alkohol kommt sie los, als sie wieder Sport betreibt: Roller-Derby. In der neuen Mannschaft findet sie ihre erste lesbische Partnerin.

Das „Mädchen vom Land“

In „Meat an Potatoes“ geht es um die Aura des „Mädels vom Land“, dem man gewissermaßen ansieht, dass es mit Fleisch und Erdäpfeln aufgezogen worden ist. Und diese Aura wird man nicht los, auch wenn man zehn Jahre in der Großstadt wohnt und einen intellektuellen Job hat. Daneben geht es im Essay auch um das Essen: Soll man Vegetarierin sein? In Brooklyn eher ja, da kauft man bei Wholefoods ein und ernährt sich verantwortlich, aber zu Hause in Wisconsin, da ist man erst wirklich daheim, wenn auf dem Teller „meat and potatoes“ aufgehäuft werden.

Gun country

Ein Essayband über den Mittleren Westen der USA kann nicht ohne einen Essay über Waffen auskommen. „Gun country“ nennt Faliveno ihr Land. Sie beschreibt die Selbstverständlichkeit, mit der die Leute Waffen besitzen, sei es Jagdgewehre, sei es Revolver und Pistolen. Dort wundert sich niemand, wenn einer mit einer Pistole im Gürtel zum Gottesdienst erscheint. Doch muss man als Intellektuelle nicht den Waffenbesitz in den USA in Bausch und Bogen verurteilen? Theoretisch ja, doch Faliveno ist ehrlich genug, zuzugeben, dass die Sache denn doch nicht so einfach ist, insbesondere, wenn man an die allgemeine Begeisterung der Landbevölkerung für die Jagd denkt. Für einen Europäer hingegen ist es befremdlich, sich vorzustellen, dass viele Leute, auch Frauen, in den USA eine „gun“ haben, um notfalls sich selbst und die Familie zu verteidigen. Aber – würden sie wirklich jemanden totschießen? Das ist dann zum Glück doch eher die Ausnahme. 

Kinder oder nicht?

„Motherland“ – da geht es wieder um Wisconsin. und zwar unter dem Aspekt der Mutterschaft. Die Bestimmung der Frau sei, so die dortige landläufige Ansicht, Heirat und Mutterschaft. Doch was, wenn jemand wie Melissa Faliveno gar keine Kinder haben will? Da entsteht ein ständiger Rechtfertigungsdruck. Die Problematik der verweigerten Mutterschaft verwebt Faliveno hier mit Überlegungen und Beobachtungen zur Pflanzenzucht. Insbesondere die „spider plant“, die Grünlilie (Chlorophytum comosum), hat es ihr angetan, da sie ständig Ableger produziert und damit sozusagen ein Symbol der Mutterschaft ist. Faliveno hat zwar keine eigenen Kinder, aber sie wurde nach und nach zu einer „Pflanzen-Mama“, die zahlreiche Pflanzen von Freunden, die weggezogen waren, aufnahm und pflegte. 

Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang erörtert wird, ist der des Leids, das durch Mutterschaft verursacht wird. Das wird zwar nicht so gern offen ausgesprochen, ist aber da, bei der Großmutter genauso wie bei der Mutter, die ihr Leben ganz der Mutterrolle unterordnen mussten, aber auch bei Melissa selbst, der die Frage Kinder oder nicht? im Grunde auch Leid verursacht…

Der letzte Essay, „Driftless“, handelt von einem Naturphänomen in Wisconsin, einem Landstrich, der von der eiszeitlichen Vergletscherung ausgenommen war und daher ganz anders aussieht als der Rest des Bundesstaats. Dieser Essay unterscheidet sich von den anderen durch eine betont poetische Sprache. Auch hier geht es nicht nur um die Natur, sondern auch um Beziehungen zu Menschen, die diese Natur erforschen.

Alle Essays sind locker strukturiert und in kurze Abschnitte aufgeteilt, die jeweils mit einer großen Initiale beginnen. Gattungstypisch ist das lockere, informelle und ganz subjektive Umkreisen des Themas oder der Themen, mal erzählerisch, mal raisonierend. Die Sprache war für mich gut verständlich, auch wenn mir vielleicht einige Anspielungen und Hintersinnigkeiten entgangen sein mögen.

Ein lesenswertes, sehr interessantes Buch jedenfalls!

Faliveno, Melissa: Tomboyland. Essays. Topple Books (=Amazon), 2020. 244 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: „Ex libris“. Porträt von Melissa Faliveno. Tuschestift, Buntstift. 2017.

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Fanny und Robert Louis Stevenson: Südseejahre.

Wolfgang Krisai: Strand bei Giens, Frankreich. Ölpastell.

Aus beruflichen Gründen suchte ich alle meine Stevenson-Bücher zusammen und kam auf eine erstaunliche Anzahl, fast alle noch ungelesen. Darunter auch die „Südseejahre. Eine ungewöhnliche Ehe in Tagebüchern und Briefen“ von Fanny und Robert Lous Stevenson, die ich nun auch gleich gelesen habe.

Den Großteil des Bandes machen die Tagebucheintragungen Fanny Stevensons aus, etwa ein Viertel, schätze ich, umfassen Briefauszüge von Robert Louis Stevenson. Darüber hinaus gibt es Einleitungen, Worterklärungen und Anmerkungen.

Fanny Stevenson

In der Einleitung wird Fanny Stevenson vorgestellt. Sie war Amerikanerin – Stevenson hingegen Schotte – aus Indianapolis mit Namen Fanny Vandegrift. Sie war eine energische Frau, nicht gerade eine Schönheit, aber eine Person, die auf ihre Selbständigkeit in einer Zeit bedacht war, in der es für Frauen noch kaum Selbständigkeit gab. In erster Ehe war sie mit einem Filou verheiratet, der in Kalifornien sein Glück suchte, es aber nicht fand. Auch Goldsucherei in den verschiedensten Goldrausch-Gegenden half da nicht.

Fanny trennte sich mehrmals von ihm, versuchte es dann wieder mit ihm – sogar noch, als sie Robert bereits kennengelernt hatte, und zwar in der Nähe von Paris, in Grez, wo es eine Künstlerkolonie gab. Stevenson verliebte sich in sie, doch sie nahm zunächst kaum Notiz von ihm.

Horrortrip und Hochzeit

Erst als ihr neuerlicher Versuch, die Ehe zu retten, schiefging, telegrafierte sie Robert, der daraufhin Geld zusammenkratzte und nach Amerika fuhr, per Schiff und dann per Bahn quer über den Kontinent nach Kalifornien. Für den lungenkranken Schriftsteller ein „Horrortrip“ (S. 19).

Die beiden heirateten, ohne dass sie die Eltern zuvor informierten. Erst später gelang es Fanny durch ihre zupackende Art, die Anerkennung von Stevensons Vater, einem Leuchtturm-Ingenieur, zu gewinnen.

Günstiges Klima für den Kranken

Auf einer Pazifikreise fanden die beiden heraus, dass Robert das Klima in Samoa besonders guttat, sodass sie beschlossen, sich dort dauerhaft anzusiedeln. Robert kaufte ein Stück Land in Vailima auf der Insel  Upolu (heute zum Staat West-Samoa gehörig) in der Nähe des Ortes Apia. Von 1890-94 lebten sie dort, bis Robert am 3. 12. 1894 an einer Gehirnblutung starb.

Dann zerfiel der Stevenson-Clan, der sich um ihn geschart hatte. Fanny überlebte ihn um 20 Jahre, die sie aber nicht in Samoa verbrachte. Allerdings liegt sie heute dort neben Robert in Vailima auf einem Hügel begraben. Das Haus der Stevensons ist heute ein Stevenson-Museum.

Managerin und „Bauernseele“

Fanny beschreibt in ihrem Tagebuch vor allem das Mangement des Haushalts und Landguts, das großteils ihre Aufgabe war. Sie musste sich zu einer Chefin zahlreicher samoanischer Dienstboten und Farm-Arbeiter entwickeln, aber genauso zu einer kundigen Bäurin. Dabei hatte sie durchaus schriftstellerische Ambitionen und ärgerte sich sehr, als Robert ihr einmal sagte, sie habe eine „Bauernseele“, sei aber keine Künstlerin (S. 62).

Tatsächlich konnte sie mit den für europäische Verhältnisse sehr gewöhnungsbedürftigen Bedingungen in Samoa gut umgehen. Sie durchschaute die Listen der Samoaner und hielt sie erfolgreich zur Arbeit an, auch wenn sie sich zum Teil über deren Unfähigkeit ärgern musste. Sie beschaffte Saatgut, pflanzte Kaffee, Kakao, Ananas, Mais, Kürbisse und zahllose andere Pflanzen, beaufsichtigte die Nutztiere (Hühner, Schweine, Pferde, die alle ihre Eigenheiten hatten) und leitete gemeinsam mit Robert den Bau ihres Landhauses. Zunächst mussten sie sich mit einer elenden Hütte zufriedengeben, bis dann das stattliche Herrenhaus fertig war. In dieses zogen dann auch Stevensons Mutter und Fannys Sohn Lloyd und ihre Tochter Belle samt Ehemann Joe Strong und Kind Austin ein. Belle entwickelte sich zu einer unentbehrlichen Sekretärin Roberts, der ihr seine Werke diktierte. Was Fanny, krankhaft eifersüchtig, nicht immer goutierte.

Man erfährt einiges über die Beziehung zu den ortsansässigen Weißen (sie war nicht immer friktionsfrei) und zu den Samoanern, von denen Robert der „Geschichtenerzähler“, „Tusitala“ auf Samoanisch, genannt wurde.

Drei Kolonialmächte

Samoa war damals eine seltsame Art von Kolonie: Die Inselgruppe wurde von drei Mächten gemeinsam regiert: den USA, England und Deutschland. Das konnte nicht gut gehen, daher musste ein unabhängiger Mann als Schiedsrichter fungieren, Conrad Cedarcrantz, eine schwedischer Diplomat, der als „OR“ (Oberster Richter) in Fannys Tagebuch aber nicht gut wegkommt, da er vor allem auf Selbstbereicherung aus war.

Krieg und geköpfte Frauen

Das letzte Jahr Stevensons wurde von einem Stammeskrieg in Samoa überschattet, in dem Stevenson vergeblich zu vermitteln versuchte. Zwei samoanische Würdenträger wurden von den Kolonialherren gegeneinander aufgewiegelt, beanspruchten beide die Königswürde und gingen schließlich mit kleinen Armeen aufeinander los. Dabei kam es zu üblen Szenen. Unter anderem wurden drei Frauen geköpft, obwohl das als extrem unehrenhaft galt, und der unterlegene Kronprätendent musste ins Exil gehen. (Kaum war Laupepa, der Sieger, 1898 gestorben, wurde Mataafa, der Unterlegene, zurückgeholt, von den Kolonialmächten 1900 als König eingesetzt und regierte als solcher 12 Jahre lang! Das erfährt man aus den biographischen Informationen am Ende des Buches.)

Zuvor kümmerten sich die Stevensons um die im örtlichen Gefängnis eingesperrten Häuptlinge der unterlegenen Seite. Das Gefängnis beaufsichtigte damals übrigens eine österreichischer Offizier namens Wurmbrand. Dem waren Stevensons Besuche im Gefängnis gar nicht recht, weil er fürchten musste, dass dadurch Aufruhr unter der Bevölkerung entstand und die Stevensons in Gefahr geraten könnten. 

Melancholie und Depressionen

Die letzten Monate werden im Buch vorwiegend durch Roberts Briefe an seinen Freund Sidney Colvin abgedeckt, der auch der erste Herausgeber der „Vailima-Letters“ war (1895). Fanny schrieb nichts in ihr Tagebuch, da sie vermutlich von Depressionen heimgesucht war. Was, finde ich, kein Wunder ist, wenn man all die Widrigkeiten ihres Lebens in Betracht zieht. Doch auch Roberts Briefe sind von Melancholie und Selbstzweifeln überschattet, zumal er in der Kriegssituation und danach, wo er vielfach als Berater der Samoaner tätig war, nicht abschätzen konnte, ob er immer das Richtige riet und tat. Umso mehr freut es ihn, wenn er von den Samoanern als Freund gefeiert wird. Sie bauen ihm sogar als Geschenk eine befestigte Zufahrtsstraße zu seinem Haus. Und zu seinem Geburtstagsfest kommen an die 160 Leute, was wiederum Fannys Managerinnen-Qualitäten ordentlich herausgefordert haben wird.

Die Tagebücher – ein „Rohdiamant“

Der Herausgeber bezeichnet Fannys Tagebücher als „Rohdiamant“, da sie nicht für eine Veröffentlichung überarbeitet wurden. Aber gerade darin liegt ihr Reiz. 

Manche Stellen wurden im Original einst geschwärzt (so die „Bauernseelen“-Aussage auf Seite 62), man konnte sie aber inzwischen mit speziellen fotografischen Techniken wieder sichtbar machen. Auch davon sind einige in diese Auswahl aufgenommen – die dann durchaus irritierend aus dem Duktus der Tagebücher herausfallen, weil sie plötzlich die weniger schönen Seiten von Fannys Leben aufflackern lassen.

Stevensons Briefe

Roberts Briefe hingegen zeigen manchmal einen fast schon bemühten Humor, mit dem er als schottischer Gentleman seiner zerrütteten Gesundheit Paroli bot. Immer musste er damit rechnen, dass Anstrengungen, die oft unvermeidlich waren, zu „Blutstürzen“ führten, und ihn kleine Erkältungen gleich wochenlang außer Gefecht setzten.

Über Roberts schriftstellerische Arbeit erfährt man erstaunlich wenig, nämlich kaum mehr als die Titel der Werke, an denen er gerade schreibt, so z. B. seines letzten Romans, „St. Yves“, den ich inzwischen zu lesen begonnen habe.

Ein überaus interessantes Buch, das Einblick in eine dem Europäer des 21. Jahrhunderts komplett fremde Welt gibt. 

Stevenson, Fanny und Robert Louis: Südseejahre. Eine ungewöhnliche Ehe in Tagebüchern und Briefen. Hg. u. a. d. Engl. übers. v. Lucien Deprijck. Mare-Verlag, Hamburg, 2011. 394 Seiten. Einige Schwarzweiß-Abbildungen.

Bild: Wolfgang Krisai: Strand bei Giens, Frankreich. Ölpastell. 2001. – Mit einem Bild aus der Südsee kann ich nicht aufwarten, aber zumindest mit diesem Sonnenuntergang am Mittelmeer.

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Henry James: Washington Square

Washington Square Park, New York City

Zur Zeit des Romans eine ländliche Idylle, heute ein beliebter Park: Washington Square Park, New York City (Foto: W. Krisai)

Henry James wurde selbst am Washington Square geboren, kennt den Schauplatz also genauestens. Der Roman spielt zu einer Zeit, wo der Platz noch nicht von Wolkenkratzern umstellt, sondern von kleinen Bürgerhäusern gesäumt war und einen durchaus ländlichen Charakter hatte. Sah man aus dem Fenster, konnte man sich wie auf dem Land fühlen.

Der Arzt Dr. Austin Sloper besitzt eines dieser Häuser und lebt dort mit seiner Tochter Catherine und seiner verwitweten Schwester Lavinia. Auch er ist verwitwet.

Der Roman erzählt geradlinig, wenn auch in manchmal ironischem Ton, von der einzigen Liebesgeschichte Catherines. Einer unglücklichen Geschichte.

Vier ausgeprägte Charaktere

In dieser Geschichte stoßen vier ausgeprägte, teils ausgeprägt wunderliche Charaktere aufeinander:

Am normalsten ist noch der Arzt selbst, der als Arzt erfolgreich, als Bürger untadelig und als Vater den Konventionen der Zeit entsprechend streng ist. Sein Fehler ist nur, dass er sich einbildet, einen untrüglichen Scharfblick für die Psyche seiner Mitmenschen zu besitzen.

Von seiner Tochter Catherine hält er wenig. In seinen Augen ist sie ein einfältiges Wesen, das er leiten, lenken und beschützen muss, weil es sonst ins Unglück läuft. Das soll sie natürlich nicht, im Gegenteil, der Vater erhofft für sie eine gute Partie, mit der sie einstmals ihre stattliche Erbschaft, die ihr zusteht, sinnvoll nutzen wird.

Catherine ist jedoch nicht einfältig, sondern nur in höchst ungewöhnlicher Weise langsam und unbeirrbar. Ihre Gefühle entstehen wie in Zeitlupe, doch wenn sie einmal da sind, klingen sie auch nie mehr ab. Für mehr als eine Liebe ist in solch einer Seele kein Platz.

In hohem Grade verrückt

Tante Lavinia hingegen ist in hohem Grade verrückt. Sie ist einer jener Menschen, die ihre verquere Vorstellung von der Wirklichkeit für die einzige Wahrheit halten. Sie träumt von romantischer Liebe für ihre Nichte und deren Verehrer, gleichzeitig ist sie selbst in diesen Jüngling verliebt. Sie fühlt sich berufen, durch geheime Machenschaften die Liebe der beiden zu fördern, und sei es um den Preis des Durchbrennens und geheimer Hochzeit irgendwo im Unbekannten. Wenn sie mit jemandem spricht, fasst sie nur die Hälfte richtig auf, und wenn sie später davon erzählt, stellt sie diese Hälfte völlig anders dar, als sie in Wirklichkeit war. Sie empfindet das nicht als Lüge, sondern glaubt wirklich, was sie daherflunkert.

Der junge Liebhaber …

Wer ist nun der junge Liebhaber? Es ist ein gewisser Morris Townsend, der plötzlich bei einer Gesellschaft auftaucht, die die zweite Schwester Dr. Slopers gibt. Sie hat ihn eingeladen, weil er bei einer Freundin wohnt und ein charmanter junger Mann ist. Viel mehr weiß man über ihn zunächst nicht.

Rätselhafter Weise stürzt sich dieser Charmeur mit bohrender Energie auf die schüchterne Catherine und macht ihr vehement den Hof. Irgendwie ist nämlich bis zu ihm durchgesickert, welch reiche Partie sie ist.

Morris ist ein Habenichts und Luftikus, wie Dr. Sloper schnell herausfindet. Sein ererbtes Vermögen hat er schnell verjubelt, und nun lebt er auf Kosten seiner Schwester, deren Kindern er angeblich Spanisch beibringt als Gegenleistung für Kost und Logis.

… kommt als Schwiegersohn nicht in Frage

Für Sloper ist schnell klar: Dieser Kerl ist nur auf das Geld seiner Tochter aus. Als Schwiegersohn kommt er nicht in Frage.

Sloper ist allerdings zu selten zu Hause, um genau verfolgen zu können, was dort vor sich geht. Ärzte besuchten damals den ganzen Tag lang ihre Patienten in deren Häusern.

Während der Vater also nicht da ist, empfängt Catherine immer häufiger ihren Verehrer, was von Tante Lavinia nach Kräften gefördert wird. Dass Sloper den beiden verbietet, den jungen Mann zu empfangen, hat keine Wirkung. Im Gegenteil, Lavinia ist geradezu stolz darauf, ihren eigenen Kopf durchzusetzen.

Catherine hingegen, die bisher ihren Vater wie einen Gott verehrt hat und nie auf die Idee gekommen wäre, sich ihm im mindesten zu widersetzen, fühlt in sich eine immer unwiderstehlichere Liebe zu Morris wachsen, die sie über die Rechte des Vaters stellt.

Heiratsantrag und Nervenzusammenbruch

Schließlich wagt es Morris, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Von diesem erzählt sie noch am selben Abend dem Vater, der ihr unmissverständlich klar macht, dass er diese Verbindung niemals dulden werde. Catherine reagiert mit einem kleinen Nervenzusammenbruch.

Am nächsten Tag kommt Morris, um offiziell um die Hand Catherines anzuhalten, und wird brüsk abgewiesen. Er kann es selbst kaum glauben. Noch nie hat jemand seinem charmanten Wesen widerstanden.

Catherine hofft nun, bestärkt von Lavinia, der Vater werde, wenn sie in der Liebe standhaft bleibe, eines Tages nachgeben. Das erwartet auch Morris, weshalb er die Flinte noch nicht ins Korn wirft, sondern im Geheimen weiter mit Catherine verkehrt.

Europa hilft nicht

Der Vater hofft, mit einer ausgedehnten Europareise zu bewirken, dass Morris von Catherine ablässt und eine andere aufgabelt. Denn dass Catherine den Verehrten innerhalb eines halben Jahres vergessen werde, ist angesichts von deren Langsamkeit in Gefühlsdingen nicht zu erwarten.

Was der Vater sechs Monate lang nicht mitbekommt, ist allerdings der rege geheime Briefverkehr zwischen Catherine und Morris, der über Lavinia läuft, in deren Briefen die des Verehrers versteckt sind. Als der Vater nach einem halben Jahr einmal fragt, ob Catherine noch an Morris denke, beichtet sie ihm ihre Korrespondenz. Der Vater ist schwer enttäuscht und redet nichts mehr mit der Tochter.

Währenddessen besucht Morris alle paar Tage Lavinia und macht es sich wie ein Pascha in den Räumen von Dr. Sloper gemütlich, pafft dessen Zigarren und trinkt dessen Wein.

Nach einem vollen Jahr kehren die Catherine und ihr Vater zurück. Der eigentliche Zweck der Reise ist völlig verfehlt. Catherine trifft sich sofort wieder mit Morris und plant eine geheime Hochzeit. Lavinia ist hingerissen.

Enterbt und verlassen

Sloper kann seiner volljährigen Tochter nicht verbieten, einen Mann ihrer Wahl zu treffen und gar zu heiraten. Er kann ihr auch nicht die 10000 Dollar Erbe von seiten ihrer Mutter sperren. Sehr wohl aber kann er ihr die 20000 Dollar, die sie von ihm erben sollte, testamentarisch entziehen und das Geld wohltätigen Zwecken widmen. Genau das droht er Catherine und Morris nun an.

Als Morris realisiert, wie ernst es Sloper damit ist, will er von Catherine schlagartig nichts mehr wissen. Diese glaubt das zunächst einfach nicht, sondern wälzt weiter geheime Heiratspläne. Schließlich aber dämmert ihr doch, was Morris’ plötzliche angebliche geschäftliche Verpflichtungen in New Orleans bedeuten. Damit bricht für sie die Welt zusammen.

Nur aus Hass auf ihren unbeugsamen Vater lässt sie sich von ihrem Leid nichts anmerken. Und diese Haltung wird ihr zur Gewohnheit.

Summarisch fasst der Roman zum Schluss zusammen, was weiter geschieht:

Catherine bleibt eine immer ältere Jungfer, die sich für wohltätige Institutionen einsetzt und in dieser Rolle hoch geachtet ist. Morris führt das Leben einer verkrachten Existenz, mit kleinen Geschäften hier und dort. Gelegentlich kreuzt er am Rande des Geschichtskreises von Catherine auf, doch sie will nichts mehr von ihm wissen.

Mit Lavinia pflegt er weiterhin losen Kontakt, und diese glaubt, wenn er nur erscheine, könne er Catherine sofort wieder für sich gewinnen. Als Sloper gestorben ist, arrangiert Lavinia tatsächlich einen Überraschungsbesuch Morris’ bei Catherine. Diese ist über diese Dreistigkeit erbost und wirft ihn hochkant hinaus.

Damit endet diese verquere Liebesgeschichte.

Ironische Distanz, messerscharf formuliert

James schildert das alles aus ironischer Distanz. Man fragt sich, warum überhaupt. Warum lässt ein Autor zweihundert Seiten lang kein gutes Haar an seinen Protagonisten? Sogar Sloper, der noch die am positivsten gestaltete Figur ist, wirkt mit seinem Starrsinn nicht gerade sympathisch. Er will das Beste für seine Tochter, erreicht aber nur, dass ihr Leben zu kalter Routine über düsterem Leid wird. Schlimm ist vor allem seine völlige Blindheit gegenüber den Machenschaften Lavinias, die viel zum Unglück ihrer Nichte beiträgt.

Die Sprache, mit der dieses Panoptikum menschlicher Verbohrtheit dargestellt ist, macht den Roman allerdings zum Vergnügen. James ist ein messerscharfer Formulierer, dessen Sätze man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Das fördert zwar das Lesetempo nicht, lässt einen aber immer wieder über die Treffsicherheit des Ausdrucks schmunzeln.

Henry James: Washington Square. In: Henry James: Novels 1881-1886. The Library of America, Band 29. [Des Moines], o. J., S. 1-189.

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John Dos Passos: Manhattan Transfer

Wolfgang Krisai: Manhattan vom Greenpoint Ferry Pier in Brooklyn aus. Tuschestift-Skizze, 2015.Wenn ich schon meinem in St. Petersburg studierenden jüngsten Sohn zu Ehren einen Roman über Petersburg las, wollte ich auch meinem ältesten Sohn, der in New York arbeitet, zu Ehren einen Roman über New York lesen. Da bot sich der schon lange im Regal stehende Meilenstein der modernen Literatur „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos an.

Montage-Technik

Er soll, so weit war ich vorinformiert, der erste Roman sein, der sich der Montage-Technik bediente, und als solcher eine Anregung für Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ gewesen sein. Die amerikanische Originalausgabe er schien 1925.

Das Großstadtleben

Der Roman versucht das New Yorker Großstadtleben rund um den Ersten Weltkrieg authentisch wiederzugeben. Dos Passos bedient sich dafür einer ganzen Reihe von Figuren aus allen gesellschaftlichen Schichten vom Bettler bis zum reichen Unternehmer, von der einfachen Näherin bis zur Starschauspielerin. Typisch für das moderne Leben ist das Durcheinander von Lebens-Bruchstücken, die man mitbekommt. Man weiß von dieser ein bisschen etwas, von jenem eine Lebensepisode – aber in den seltensten Fällen kennt man einen Menschen und dessen Leben von A bis Z.

Genau das macht auch dieser Roman: Kleine Lebensabschnitte der Figuren reihen sich unvermittelt aneinander, so, als schalte man am Fernseher von Kanal zu Kanal und sähe immer nur kurze Ausschnitte aus Filmen. Da die Zahl der Fernsehkanäle aber begrenzt ist, zappt man auch immer wieder hin und zurück, sodass man aus den gleichen „Lebensfilmen“ mehrere Abschnitte mitbekommen kann. Was dazwischen war, kann man sich ungefähr zusammenreimen oder es zumindest erahnen.

Glühwürmchenzüge schusseln im Zwielicht

Es gibt eine Gliederung des ganzen Buches in drei „Bücher“ und umfangreiche Kapitel. Jedes Kapitel wird durch einen kursiv gedruckten, kurzen Anfang eingeleitet, der eine Impression der Großstadt bietet, meist ohne noch konkreten Personen zugeordnet zu sein. Das sind die sprachlich originellsten Abschnitte. Ein Beispiel: der Anfang von Kapitel drei aus dem dritten Buch:

„Glühwürmchenzüge schusseln im Zwielicht durch die nebligen Schatten spinnwebiger Brücken, Aufzüge steigen und fallen in ihren Schächten, Hafenlichter blinken.

Wie Pflanzensaft beim ersten Frost beginnen um fünf Uhr Männer und Frauen allmählich aus den hohen Gebäuden der City hervorzusickern, grauwangige Scharen überfluten U-Bahnen und Tunnelbahnen, verschwinden unter die Erde.

Die ganze Nacht lang stehen die großen Gebäude leer und still, dunkel ihre Millionen Fenster. Lichtsabbernd kauen die Fähren scharfe Spuren in den lackglatten Hafen. Um Mitternacht gleiten die vieressigen Eildampfer aus ihren grellbeleuchteten Ankerplätzchen in die Finsternis hinaus. Bankdirektoren, triefäugig von geheimen Konferenzen, hören das Tuten der Schlepper, während die Leuchtkäferwächter sie durch die Seitentüren hinauslassen. Brummend sinken sie in die Polster ihrer Limousinen und sausen auf die Vierziger zu, rasselnde Straßen voller Lichter, weiß wie Gin, gelb wie Whisky, schäumend wie Apfelwein.“ (S. 362)

Der Rest der Kapitel ist dann in weniger expressiver Sprache abgefasst und mit vielen Dialogen gespickt, sodass sich das alles sehr gut liest.

Das, was ich mir als Montage-Technik erwartet habe, nämlich das unvermittelte Ineinanderschneiden von Erzählung, Dialog, Wahrnehmungsfetzen, Werbetexten, Radiomeldungen, etc., tritt hingegen seltener in Erscheinung, und wenn, nur kurz.

Figurenarsenal

Ich hätte, um den Überblick über das Figurenarsenal des Romans nicht zu verlieren, von Anfang an eine Figurentabelle anlegen und diese Schritt für Schritt mit Daten anreichern sollen. Das habe ich jedoch nicht gemacht, daher fürchte ich, dass meine Erinnerung an die Romanfiguren noch bruchstückhafter und unsicherer ist als das, was der Autor uns serviert.

Es gibt ein paar „Hauptfiguren“, die praktisch den ganzen Roman durchziehen. Von den Frauen ist dies Ellen, die zunächst ein Musicalstar wird, später aber Journalistin.

Sie wird von zahlreichen Verehrern umkreist, von denen die männliche Hauptfigur Jimmy Herf sogar die Ehre hat, sie zu heiraten. Die Ehe geht aber nicht lange gut, der Sohn Martin kann daran auch nichts ändern.

Das Ende

Jimmy folgt man von der Kindheit an. Er ist der überbehütete Sohn einer kränklichen Mutter, die bald stirbt, wird dann von Verwandten aufgenommen und schlägt eine journalistische Laufbahn ein. Er hat die Arbeit als Reporter aber bald satt, weil er sich lediglich als „Schreibmaschine“ fühlt, die nur über das schreibt, was sich gerade zuträgt, aber niemals selbst kreativ etwas hervorbringen darf. Folglich schmeißt er seinen Job irgendwann hin und will sich als Schriftsteller versuchen. Im letzten Abschnitt des Romans trennt er sich von Ellen, gibt seine letzten Dollars für ein Essen aus und fährt dann mit einem Lastwagen ins Ungewisse:

„Ein riesiger Möbelwagen, gelb und blank, ist draußen vorgefahren.

‚Sagen Sie mal, darf ich mitfahren?’, fragt er den rothaarigen Chauffeur.

‚Wie weit wollense denn?‘

‚Das weiß ich nicht … Ziemlich weit.‘“ (Das ist, auf Seite 479, das Ende des Romans.)

Eigentlich ein Mörder

Während Jimmy Herf im gesamten Roman eine Rolle spielt, ist jene Person, mit der der Roman eröffnet wird, nur im ersten Buch vorhanden: Bud Korpenning. Dieser junge Mann vom Land kommt mit der Fähre nach New York – „Manhattan Transfer“ ist die Bezeichnung für die New Yorks Fähren – und will hier Arbeit finden, egal, welche. Das verfolgt man als Leser über einige Abschnitte mit. Doch Bud hat Pech. Niemand kann ihn brauchen. Schließlich verliert er die Nerven, erzählt in einem Obdachlosenasyl seinem Bettnachbarn, dass er eigentlich ein Mörder ist, der seinen Vater erschlagen hat und deshalb nach New York geflüchtet ist, und marschiert dann auf die Brooklyn Bridge hinaus, überklettert das Brückengeländer und stürzt sich in den East River. Eine Fährenbesatzung hat ihn aufklatschen gehört, kann ihn aber nur noch tot herausholen – mit gebrochenem Genick. Das am Ende des ersten Buches, Seite 151.

Holzbeiniger Schnapsbudenbesitzer

Daneben gibt es noch zahlreiche weitere mehr oder weniger interessante Figuren. Zum Beispiel einen holzbeinigen Besitzer einer illegalen Schnapsbude am Hafen, bei dem Jimmy gerade zu Gast ist (um eine Reportage darüber zu schreiben), als ein illegaler Champagnertransport anlegt und beim Ausladen von konkurrierenden Gaunern überfallen wird, die jedoch zurückgeschlagen werden. Allerdings geht dabei neben einigen feindlichen Schädeldecken auch das Holzbein des Wirts zu Bruch.

Während dieser piratenhafte Wirt eine eher lustige Gestalt ist, gehört Joe Harland zur gegenteiligen Kategorie: Zu Beginn gibt er guten Freunden noch bombensichere Tipps für gewinnbringende Aktienspekulationen, doch einige Kapitel später hat er sich schon gröber verspekuliert, sein Reichtum hat sich in nichts aufgelöst und er ist in der Gosse gelandet. Gelegentlich findet er noch einen ehemaligen Bewunderer, der ihm einen Vierteldollar für einen Imbiss zusteckt, aber das war’s dann schon.

Der Unfall eines Milchwagenkutschers

Eine interessante Abhängigkeit zunächst scheinbar zum gegenseitigen Nachteil, später aber doch zum Vorteil verbindet den jungen, aufstrebenden Anwalt George Baldwin mit dem Milchwagenkutscher Gus McNiel und dessen Frau Nellie. Am Ende des zweiten Kapitels der ersten Buchs gibt es einen eindrucksvollen Knalleffekt: Gus kutschiert seinen Milchwagen gedankenverloren über einen Bahnübergang und wird von einem daherrollenden Waggon niedergefahren:

„‚He – he – ogottogott!‘ schreit ein Mann am Rande des Trottoirs. ‚Obacht! Die Waggons!‘

Ein klaffender Mund unter einem Mützenschirm, eine flatternde grüne Fahne … ‚Allmächtiger Gott! Ich bin auf dem Gleis …‘ Er reißt den Kopf des Gauls zur Seite. Hinter ihm kracht es schmetternd gegen den Wagen. Waggons, der Wallach, grüne Flagge, rote Häuser wirbeln im Kreis, zerfallen in schwarze Finsternis.“ (S. 59f)

Im nächsten Kapitel sieht George Baldwin genau in diesem Unfall seine Chance: Er spricht bei Nellie vor und überredet sie, ihn mit der rechtlichen Vertretung ihres verunfallten Gatten zu beauftragen. Sie sagt zu – und verfällt dem charmanten Anwalt, der gleich ein Verhältnis mit ihr beginnt.

Die weitere Entwicklung des Ganzen überraschte mich: Baldwin erkämpft enormen Schadenersatz für Gus, was den Startschuss zu einer erfolgreichen Anwaltskarriere bedeutet; als das Verfahren abgeschlossen ist, hat Nellie von ihm genug und kehrt zum auch gesundheitlich wieder hergestellten Gus zurück, der mit dem Geld geschickt umgeht, den Milchwagen-Job an den Nagel hängt und ein wichtiger Kommunalpolitiker wird.

Es gibt also, wie man sieht, nicht nur negative Entwicklungen. Auch wenn Baldwin zugegebenermaßen zwar finanziell, nicht aber erotisch erfolgreich ist.

Gelungen

Ich könnte jetzt noch weitere Episoden erzählen. An viele erinnere ich mich kaum noch, doch das entspricht eigentlich dem Großstadtleben, wie Dos Passos es schildert: das eine geht, das andere kommt, man erlebt manches mit, anderes nur als Zuschauer am Rande, vieles höchstens vom Hörensagen. Genau das scheint mir das Anliegen des Romans zu sein: den Leser das Großstadtleben erlebbar zu machen. Und es ist gelungen.

John Dos Passos: Manhattan Transfer. Roman. Aus dem Amerikanischen übertragen von Paul Baudisch. Lizenzausgabe für die Deutsche Buch-Gemeinschaft, etc.; Rowohlt, Hamburg, 1959. 479 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Manhattan vom Greenpoint Ferry Pier in Brooklyn aus. Tuschestift-Skizze, 2015.

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Andy Weir: Der Marsianer

Wolfgang Krisai: Auf einem fremden Planeten. Abklatschtechnik und Collage.Wieder einmal ein angenehm spannender Science-fiction-Roman: „Der Marsianer“ von Andy Weir. Bei diesem 500-Seiten-Roman handelt es sich um eine Robinsonade des 21. Jahrhunderts: Ein Astronaut wird bei einer Marsmission allein auf dem Roten Planeten zurückgelassen, weil seine Kollegen ihn für tot halten. Doch Mark Watney ist nicht tot, nur verletzt. Als seine Crew-KollegInnen per MRM (Mars-Rückkehr-Modul) zum Mutterschiff aufgestiegen sind, wacht Watney aus der Bewusstlosigkeit auf und stellt fest: die Antenne, die ihn während des Sturms, vor dem die Crew flüchten musste, getroffen hat, steckt zwar in seiner Hüfte, das Blut hat aber den Raumanzug notdürftig verschlossen, sodass er sich in die „Wohnkuppel“ zurückschleppen kann.

Ein Robinson auf dem Mars

Wie weiland Robinson macht sich Watney – zum Vorteil für den Leser – als allererstes daran, von nun an alles in einem Mars-Logbuch festzuhalten, das er in einen Computer tippt. Minutiös genau erfahren wir also, was Watney alles ausheckt, um zunächst am Leben zu bleiben und schließlich zu jenem bereits auf dem Mars abgestellten MRM zu gelangen, mit dem in vier Jahren eine weitere Crew vom Mars zur Erde zurückkehren soll.

Bis dahin hofft er, mittels einer mühsam angelegten Kartoffelkultur und einiger Vorräte sowie aus Raketentreibstoff gewonnenen Wassers überleben zu können.

Hoffnung auf Bergung

Der Roman besteht jedoch nicht nur aus Watneys Tagebucheintragungen, sondern ab Seite 77 kommt Schauplatz Erde hinzu. Auf Satellitenfotos ist nämlich, wie eine aufmerksame NASA-Mitarbeiterin bemerkt, deutlich zu erkennen, dass Watney noch leben muss und sich auf dem Mars irgendwie einrichtet. Damit besteht für die NASA die Hoffnung, ihn lebend bergen zu können. Nur wie?

Es dauert einige Zeit, bis Watney in der Lage ist, mit einem seiner beiden Mars-Rover zu einer ausgedienten Marssonde zu gelangen, die ein noch funktionierendes Funkgerät hat, mit dem er Kontakt zur Erde aufnehmen kann.

Watney vermasselt es – fast

Nun arbeiten Watney und NASA an einer Rettungsaktion. Watney vermasselt das allerdings fast, da er durch einen Kurzschluss das Funkgerät ruiniert. Nun ist er wieder auf sich allein gestellt. Einziger Unterschied: Mittels aus Steinen aufgelegten Morsezeichen, die auf Satellitenbildern zu erkennen sind, kann er der NASA kurze Mitteilungen machen.

Auf der Erde arbeiten unzählige Spezialisten daran, Watney zu retten. Der Roman thematisiert auch die Frage der Rentabilität so einer kostenintensiven Rettungsaktion: Der Mensch sei von Natur aus so angelegt, dass er ohne Rücksicht auf den Aufwand einen anderen, der in Not geraten ist, hilft. Nun ist das eben die teuerste und schwierigste Rettungsaktion der Weltgeschichte.

Die Crew auf dem Mutterschiff, das inzwischen schon wieder auf dem Heimweg zu Erde ist, kann übrigens ihren „Fehler“ wieder gutmachen und zum Mars zurückfliegen, um Watney heimzuholen.

Immer neue Zwischenfälle

Andy Weir bedient sich vor allem zweier Mittel, um den Leser bei der Stange zu halten:

Erstens geschickt eingesetzter und einfallsreicher Spannungssteigerung durch immer neue Zwischenfälle. Kaum atmet man auf, weil ein Unbill überstanden ist, bricht schon das nächste über den Marsianer herein. Natürlich weiß man: Dieser Roman muss gut ausgehen. Aber wie? Das macht die Spannung aus.

Unverwüstlicher Humor

Zweitens ist da Mark Watneys unverwüstlicher Humor, der für Heiterkeit trotz aller Gefahr sorgt. Dennoch ist Watney kein trottelhafter Witzbold, das wäre für einen Astronauten wenig glaubwürdig, sondern ein intelligenter Kerl, der seine Kenntnisse als Botaniker und Ingenieur geschickt einsetzt, aber nicht zuletzt wegen seines optimistischen Gemüts von der NASA für die Marsmission ausgewählt wurde. Dadurch unterscheidet sich Watney auch von seinem „Vorfahren“ Robinson, denn Defoes berühmter Held hat viele gute Eigenschaften, aber Humor, so weit ich mich erinnere, überhaupt nicht.

Die Verfilmung

Ich habe mir inzwischen die Verfilmung des Romans (Regie: Ridley Scott) angesehen. Interessant: Während sich der Film ziemlich getreu an die erste Hälfte des Romans hält, wird der Rest radikal zusammengestrichen. Im Film ruiniert Watney nämlich das Funkgerät nicht, wäre also weiterhin in direktem Kontakt mit der NASA, nur spielt das ab dann kaum noch eine Rolle. Der Film funktioniert trotzdem, allerdings bedauert man als Leser des Romans, dass viele interessante und spannende Momente aus dem Roman im Film nicht vorkommen. Dafür gibt es eine Art Epilog, der wiederum im Buch nicht vorkommt. Sehen wir es so: Wer zuerst den Film sieht, kann den Roman danach immer noch mit Spannung lesen.

Andy Weir: Der Marsianer. Rettet Mark Watney. Roman. Heyne-TB. Heyne, München, 2015. Amerikanisches Original: 2011. 508 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Auf einem fremden Planeten. Abklatschtechnik und Collage. – Dieses Bild fertigte ich vor vielen Jahren als Beispiel für den praktischen Kunstunterricht an.

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