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Günter Düriegl: Wien 1683. Die zweite Türkenbelagerung

Wolfgang Krisai: Wehrturm Perchtoldsdorf. Tuschestift. 2015.

Günter Düriegl, als Mitarbeiter des Historischen Museums der Stadt Wien (heute: WienMuseum) für die Bestände an türkischen Memorabilien verantwortlich, beschreibt in diesem gut zu lesenden Buch die Vorgeschichte und – wesentlich genauer – den Ablauf der Türkenbelagerung.

Zu Beginn betont er, man solle sich den Blick auf die türkische Kultur, die damals hoch entwickelt war, nicht dadurch trüben lassen, dass die Türken die Feinde waren.

Zwischen zwei Fronten

Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und darin wiederum das Gebiet der Habsburger stand damals zwischen zwei Fronten: im Westen die Franzosen, die unter Ludwig XIV. um die Vorherrschaft in Europa rangen, und im Osten die Osmanen, die ihrerseits nach Europa drängten, indem sie Siebenbürgen, Ungarn und Teile Polens unter ihre Herrschaft bringen wollten.

Kaiser Leopold I. (-1706) brachte eine breite Allianz gegen die Türken zustande: Österreich, Sachsen, Bayern, Polen (unter König Johann III. Sobieski) und andere stellten Truppenkontingente, eine Reihe anderer Staaten steuerten Geldmittel bei (darunter als Hauptgeldgeber Papst Innozenz XI.!), sodass Leopold hoffte, die Türken aus Ungarn vertreiben zu können. Sein Heerführer war Herzog Karl V. von Lothringen, der in diesem Buch als der führende Stratege dargestellt wird.

Vordringen der Türken

Zunächst lief die Sache aber gar nicht so, wie Leopold es sich vorgestellt hatte. Die Türken unter dem ehrgeizigen Feldherrn Kara Mustafa drangen rasch bis weit nach Ungarn vor, die Österreicher mussten sich zurückziehen.

Obwohl Kara Mustafa gar nicht autorisiert war, eine Belagerung Wiens durchzuführen, marschierte er Anfang 1683 auf Wien. Hätte er gewonnen, wäre er hoch geehrt worden. Was ihm andernfalls blühte, hat er wohl gewusst: wenn nicht der Tod im Kampf, so die Hinrichtung durch den eigenen Herrn, vollzogen im September 1683 in Belgrad.

Als die Türken anrückten, flohen 60000 Wiener aus der Stadt, mit ihnen Leopold samt seinem Hofstaat. Er setzte sich nach Passau ab, wo er sich halbwegs sicher fühlen konnte.

Die Geflohenen wurden von einströmenden Flüchtlingen aus dem Osten, wo die Türken alles niederbrannten und jeden massakrierten, der ihnen vor den Krummsäbel kam, ersetzt.

Wien im Belagerungszustand

Klarer Weise stürzte Wien damals in ziemliches Chaos. Die Bürger selbst wären nicht in der Lage gewesen, die Stadt wirkungsvoll zu verteidigen. Das besorgten in erster Linie die Infanteristen des kaiserlichen Heeres. Der Militärkommandant der Stadt war Ernst Rüdiger Graf Starhemberg (Graz 1638 – Vösendorf 1701), ein äußerst fähiger Mann. Ihm zur Seite stand der Wiener Bürgermeister Johann Andreas von Liebenberg (1627-1683), der während der Belagerung von der Ruhr dahingerafft wurde. Die militärischen und die städtischen Behörden sorgten für die Belagerung vor, so gut es noch ging. Die für genau diesen Fall errichtete moderne Stadtmauer mit ihren Bastionen, Ravelins, Palisaden und Gräben wurde ausgebessert, Vorräte angehäuft, Truppen zusammengestellt. Neben den regulären Soldaten wurden Kontingente von Bürgern, Studenten, ja Geistlichen aufgeboten. Je nach militärischer Eignung mussten diese Mannschaften Schanzarbeiten verrichten oder militärische Operationen durchführen.

Um den Angreifern keine gute Deckung zu überlassen, wurden in den Tagen vor der Ankunft der Türken die Vorstädte niedergebrannt, samt allem, was an Vorräten und sonstigem Material noch dort war. Man darf sich die Vorstädte nicht als wie heute dicht bebautes Gebiet vorstellen, sondern nur als locker mit kleinen Bauten bestreutes Land dörflichen Charakters.

Riesiges türkisches Heerlager

Bald darauf bedeckte ein riesiges türkisches Heerlager das Gebiet der Vorstädte: 25000 Zelte für 250000 Leute, davon ca. 90000 Soldaten, von denen wieder rund 20000 eigentliche Belagerungstruppen waren, während die anderen die Gegend um Wien verwüsteten.

Gnadenlos niedergemetzelt

Diese gefährlichen Tataren-Horden wären für den geordneten Kampf unbrauchbar gewesen, sie eigneten sich aber hervorragend, die weitere Umgebung Wiens hinunter bis Wiener Neustadt (das energischen Widerstand leistete) und hinüber bis Ybbs in Schrecken zu versetzen. Diesen Tataren konnte man nicht trauen, wie die Bevölkerung des südlichen Vororts Perchtoldsdorf schmerzlich erfahren musste: Die Einwohner kapitulierten, als ihnen freies Geleit zugesichert wurde, und übergaben ihre Waffen. Kaum waren sie schutzlos, metzelten die Tataren sie gnadenlos nieder.

Fast in die Luft geflogen

Am 14. Juli, noch vor Beginn der eigentlichen Belagerung, wäre Wien fast in die Hände der Türken gefallen: Im Schottenkloster brach ein Brand aus, der auf ein daneben liegendes Pulvermagazin überzugreifen drohte. Die Türken schossen mit ihren Kanonen in das Inferno hinein, wo Guido von Starhemberg, der Neffe des Oberkommandierenden, Männer zwang, unter Lebensgefahr die Fenster des Pulvermagazins zu vermauern, während ihnen die Kugeln der Türken um die Ohren pfiffen.

Als der Brand gelöscht war, kümmerte man sich sofort um die sicherere Verwahrung der Munition und des Pulvers in tiefen Kellern, außerdem ließ Graf Starhemberg sämtliche mit Holzschindeln gedeckten Dächer der Stadt abdecken und exponierte Holzbauten wie das kaiserliche Opern-Freilichttheater (wo Leopold I. 1668 Marc Antonio Cestis Oper „Il pomo d’oro“ hatte aufführen lassen) abreißen.

Fähige türkische Mineure

Kara Mustafa errichtete seinen Zeltpalast auf der Schmelz, von wo aus er den gesamten Kampfplatz überblicken konnte.

Seine Angriffe richtete er vor allem auf die Basteien im Bereich der heutigen Hofburg. Das 300 Meter breite Glacis wurde mit Laufgräben durchzogen, durch die die Türken vorrückten.

Mineure bohrten Stollen unter die Stadtbefestigung und versuchten sie in die Luft zu sprengen. Die Türken waren auf diesem Sektor wahre Meister, während die Wiener nur schlecht ausgebildete Mineure zur Verfügung hatten, die den Türken nichts Wirkungsvolles entgegensetzen konnten.

Rund sechs Wochen dauerte die Belagerung. Die Türken kamen trotz zäher Abwehr der Wiener Meter für Meter näher an die Burgbastei heran. Schließlich gelang es ihnen, eine Bresche in die Stadtmauer zu sprengen, die die Wiener nur notdürftig schließen konnten.

Während der Belagerung schrumpfte die Zahl der Verteidiger stetig dahin, militärische Verluste und die Ruhr waren die Ursache, während die Versorgung mit Lebensmitteln noch relativ gut funktionierte, auch wenn die Nahrungsmittel von Tag zu Tag teurer wurden.

Das Entsatzheer

Währenddessen waren Kaiser Leopold und Herzog Karl von Lothringen nicht untätig. Mit seiner Kavallerie sicherte Karl das Gebiet nördlich der Donau, außerdem war er dabei, das Koalitionsheer für den Entsatz der Stadt zum Einsatz vorzubereiten. Das war nicht ganz einfach, da auch in dieser bedrohlichen Lage kleinliche Streitigkeiten um Rangordnungen und Belohnungen die Fürsten sehr beschäftigten. Der polnische König Johann Sobieski wollte überhaupt die Führungsrolle übernehmen. Pro forma wurde sie ihm auch überlassen, da man sein Heer unbedingt brauchte.

Entscheidungsschlacht am 12. September 1683

Das Entsatzheer überquerte bei Krems und Tulln die Donau. Erste Truppen tauchten am 9. September auf der Kuppe des Wienerwalds auf. Am 12. September kam es zur Entscheidungsschlacht, die im Buch ausführlich geschildert wird. Die beteiligten Heerführer mussten alle in dieser unübersichtlichen Schlacht auf eigene Faust und trotzdem kooperativ handeln. Was tatsächlich gelang, sodass am Abend die Türken in die Flucht geschlagen waren. Diese konnten nur mitnehmen, was man in aller Eile zusammenraffen konnte, doch das meiste ließen sie liegen.

Angeber Sobieski

Typisch für die Rangelei unter den Koalitionären ist die Reaktion der Polen: Obwohl Plünderungen des Türkenlagers in der Nacht verboten waren, hielten sie die Polen nicht daran und räumten schon mal kräftig ab. Das machte Sobieski nicht gerade beliebt unter seinen Partnern, die erst am nächsten Tag ihre Truppen ins türkische Lager ließen.

Sobieski bestand auch darauf, als erster triumphal in die Stadt einzuziehen, obwohl möglicherweise bekannt war, dass Leopold größten Wert darauf legte, dies selbst zu tun. Sobieski zog also am 13. Juli in die Stadt ein, von Soldaten und Wienern bejubelt, während der Kaiser erst am Tag darauf seinen Einzug halten konnte.

Zu einer frostigen Begegnung von Leopold und Sobieski kam es am 15. Juli, wo Leopold nur Sobieski selbst, nicht aber dessen Sohn und die polnischen Adeligen begrüßte. Ein Affront, mit dem Leopold es sich mit Sobieski verscherzte. Die Polen zogen bald ab, während Karl von Lothringen mit seinem Heer ab dem 18. September den Türken nachsetzte. Kaiser Leopold verließ Wien wieder und übersiedelte nach Linz.

Das Buch ist mit zahlreichen zeitgenössischen Abbildung illustriert, darunter zehn Kupferstiche des Holländers Romeyn de Hooghe (1645-1708).

Günter Düriegl: Wien 1683. Die zweite Türkenbelagerung. Böhlau, Wien u. a., 1981. 158 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Wehrturm Perchtoldsdorf. Tuschestift. 2015. – Die Perchtoldsdorfer Bevölkerung wurde 1683 von den Tataren ausradiert.

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Jaan Kross: Wikmans Zöglinge

Wolfgang Krisai: Zwei Gymnasiasten beim Zeichenunterricht. Ölkreide, ca. 1995.

Ein neuer Roman des estnischen Autors Jaan Kross (1920-2007)! Zehn Jahre nach seinem Tod und 30 Jahre, nachdem Kross ihn zu schreiben begann, endlich auf Deutsch. Da ich schon mehrere Romane von Kross mit Begeisterung gelesen habe, musste ich natürlich zuschlagen – und das Buch auch gleich lesen.

Autobiographisch

Das Wikmansche Gymnasium in Tallinn ist der Hauptschauplatz, der zu Beginn, im Jahr 1937, 17-jährige Schüler Jaak Sirkel die Hauptfigur. Da dämmert dem Leser natürlich sehr schnell, dass es sich um einen autobiographischen Roman handeln könnte. Das Nachwort von Cornelius Hasselblatt bestätigt diese Vermutung.

Gymnasiastenroman

Man kann sich also mit Vergnügen in einen breit ausladenden Gymnasiastenroman vertiefen, der bestens unterhält und einen zunächst nicht unbedingt mit Tiefgang behelligt. Damals hatte jeder Lehrer und jede Lehrerin – in Wikmans Knabengymnasium gab es auch weibliche Lehrkärfte – nicht nur seinen bzw. ihren Spitznamen, sondern vor allem ausgeprägte Marotten, einen sehr individuellen Sprachduktus und natürlich die unterschiedlichsten „pädagogischen“ Methoden, eine Meute Siebzehnjähriger in Schach zu halten.

Einen guten Teil des „Amüsemangs“ bei der Lektüre bezieht man von der Fähigkeit des Schülers Penn, die Lehrer nachzuahmen. Und der Übersetzerin Irja Grönholm, diese kuriosen Akzente und Sprechweisen kongenial ins Deutsche zu übertragen.

Gleich zu Beginn erinnert Direktor Wikman, nach dem das Gymnasium benannt ist, an die hehren Ziele seiner Schule im noch nicht lange unabhängigen Estland: „‚Wir, die Esten, sind so wenige, dass das Ziel eines jeden Esten  oder zumindest eines jeden Wikmanschen Gymnasiasten – in der Onstärblichkeit liegen muss!‘“ (S. 12)

Schülerstreiche

Wenige Seiten weiter geht es schon um den ersten einer Reihe mehr oder weniger harmloser Schülerstreiche: Religionslehrer Tooder wird mit einer Ladung Magnesium, das im Papierkorb gezündet wird, fast geblendet. Der Schüler, dessen Aufgabe es war, den explodierenden Papierkorb dem Lehrer unter die Nase zu halten, wird vorläufig der Schule verwiesen: Juss Pukspuu. Im nächsten Schuljahr würde man ihn nur dann weiter das Gymnasium besuchen lassen, wenn er zu Schulbeginn in allen Fächern eine Prüfung über den versäumten Stoff ablege.

Allein schon die estnischen Namen haben ja ziemliches Heiterkeitspotential, muss ich sagen. Anfangs sind sie noch schwer zu merken, doch mit der Zeit bessert sich das.

Jaak, der Klassenprimus – es ist ja schon interessant und käme in der deutschen Literatur niemals vor, dass der Klassenprimus der Held eines großteils heiteren Schülerromans ist; Verachtung schulischer Leistung als „Strebertum“ scheint in Estland damals nicht aktuell gewesen zu sein –, Jaak also überlegt sich eine Lösung, wie man dem mit den bevorstehenden Prüfungen heillos überforderten Juss helfen könnte, und gewinnt seine Mitschüler dafür, den ebenfalls ausgezeichneten Klassenkollegen Riks Laasik dafür zu bezahlen, dass er Juss von nun an bis zur Prüfung Nachhilfestunden gebe. Die Bezahlung dient dazu, den Verdienstentgang auszugleichen, den Laasik durch die Stunden erleidet. Laasik ist Sohn einer mittellosen Witwe, die sich gemeinsam mit der ganzen Familie durch Besenbinderei über Wasser hält. Laasiks Freizeit ist also von früh bis spät mit Besenbinden ausgefüllt.

Liebesgeschichte

Juss und Laasik sind einverstanden, und die Stundengeberei grundiert den Großteil des Romans. Sie ist Voraussetzung dafür, dass Jaak Juss’ Zwillingsschwester Virve kennenlernt, als er Riks bei Pukspuus einführt. Sofort ist Jaak von Virve verzaubert, und damit beginnt eine der schönsten und traurigsten Liebesgeschichten, die ich je gelesen habe.

Was sich zunächst vielversprechend anlässt, gerät nämlich schnell in Turbulenzen. Nicht nur Jaak hat sich in Virve verguckt, sondern auch der an sich staubtrockene Riks, und Virve hält es anfangs geschickt in Schwebe, wem sie ihre Gunst gewährt. Schließlich aber gewinnt Jaak, und Virve trifft sich mit ihm in abgelegenen Cafés, denn ein Wikmanscher Gymnasiast dürfte keinesfalls in Mädchengesellschaft in der Stadt von einem Lehrer ertappt werden.

Riks bleibt dennoch eine ständige Quelle der Eifersucht, die Jaak befällt, weil Riks ja ständig um Virve herumscharwenzeln kann.

Das Abschlussjahr

Schließlich kommt der Beginn des nächsten, für Jaak und seine Mitschüler letzten Schuljahrs. Juss besteht die Prüfungen dank Riks’ Tutorium, geht aber aus Stolz trotzdem von der Schule ab. Direktor Wikman ist inzwischen gestorben und von Direktor Puhm, einer schwammigen, etwas langsamen, vom Bildungsministerium an die Schule strafversetzten Figur, ersetzt.

Während Wikman eine Autorität war, die sogar den Siebtklässlern Respekt abnötigte, ist Puhm – bald nur noch „Duhm“, von „dumm“ abgeleitet, genannt – selbst Zielscheibe von Streichen und Frechheiten. Denn auch in der achten Klasse reißen die Streiche nicht ab.

Schließlich gerät allerdings Riks bei der Ausführung eines Dienstes für die Mädchenschule (er soll die Lösungen der zuerst bei den Burschen, dann bei den Mädchen vom gleichen Professor abgehaltenen Mathematik-Arbeit eiligst zur Mädchenschule bringen, wo Virve ihn bereits erwartet) unter die Straßenbahn und erleidet einen Schädelbasisbruch. Mit knapper Not überlebt er.

In den Mühlen der Geschichte

Was man von der ersten Nennung des Jahres, mit dem der Roman beginnt, 1937, ahnt, tritt ein, als die Abschlussprüfungen überstanden sind und das Schüler-Dasein ein Ende hat: Die Weltgeschichte tritt mit brutalem Stiefel auf das kleine Estland. Historische Informationen, die Kross nur andeutet, weil er sie bei seinen estnischen LeserInnen wohl als bekannt voraussetzen konnte, werden im Nachwort beleuchtet. Das unabhängige Estland wird 1940 von der UdSSR aufgesogen, dann von den Deutschen überrollt, schließlich von den Russen zurückerobert.

Die Schüler des Wikmanschen Gymnasiums geraten in die Mühlen der Geschichte. Kross erzählt allerdings nur noch die wichtigsten Stationen der Liebesgeschichte zwischen Jaak und Virve fertig, damit der Leser nicht verzweifelt. Denn die Studienjahre Jaaks hat Kross in einem noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman behandelt.

Während der deutschen Besatzung hat sich der Student Jaak, um sich der Einberufung zur Reichswehr zu entziehen, als unentbehrlicher Weichensteller am Tallinner Bahnhof anstellen lassen. Während dieser Zeit, fünf Jahre nach dem Abitur, trifft er Virve wieder. Riks ist Soldat der Roten Armee geworden und weit weg. Endlich kann sich die Liebe der beiden so richtig entfalten, auch wenn rundum Bomben fallen. Doch das Liebesglück währt nicht lange, denn Jaak wird von den Deutschen eingesperrt, da er anderen illegale Papiere verschafft hat.

Auf der Suche nach der Geliebten

Am Tag, als die Deutschen vor den Russen aus Tallinn abrücken, lassen sie die Gefangenen frei. Jaak schlägt sich zu den Pukspuus durch, in der Hoffnung, Virve zu treffen. Doch es ist nur ihre Mutter da. Sie vermutet, Virve sei in einem Sommerhäuschen am Meer. Jaak radelt hin, 80 Kilometer, doch das Sommerhäuschen ist leer. Also zurück. Inzwischen hat Jaaks Mutter einen Abschiedsbrief der Tochter entdeckt und lässt ihn Jaak lesen: Virve ist vor den Russen geflüchtet und hofft, nach Schweden zu gelangen. Sie hat sich damit bewusst gegen Jaak entschieden.

Mit den Russen ist auch Riks aufgetaucht. Auch er auf der Suche nach Virve. Nun sitzen beide enttäuschten Rivalen über Virves Brief… Die Zeitläufte haben ihre Liebe zerstört.

Motivische Klammer

Übrigens setzt Kross am Ende des Romans noch eine Klammer zum Beginn: Als Jaak Virve in dem Sommerhäuschen sucht, stößt er auf den Nachbarn, ausgerechnet jenen Religionslehrer Tooder, dem die Schüler durch ihren Magnesiumblitz „erleuchtet“ hatten. Er hat vor Jahren in einem Buch über Kirchengeschichte eine Passage über die Verfolgung von Priestern durch Stalin veröffentlicht und ist sich sicher, dass Stalin ihm deshalb an den Kragen will. Also vertraut er sich in einem Akt selbstmörderischen Gottvertrauens gemeinsam mit seinem achtjährigen Sohn einem kleinen Ruderboot an und fährt, Kirchenlieder singend, in die stürmische See hinaus. Jaak kann ihn nicht zurückhalten.

Jaan Kross: Wikmans Zöglinge. Roman. Aus dem Estnischen von Irja Grönholm. Mit einem Nachwort von Cornelius Hasselblatt. Osburg Verlag, Hamburg 2017. 573 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Zwei Gymnasiasten beim Zeichenunterricht. Ölkreide, ca. 1995.

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Uwe Tellkamp: Die Schwebebahn. Dresdner Erkundungen

Wolfgang Krisai: Blick vom Biergarten am Dach des Yenidze in Dresden, Tuchestift, Buntstift; 2015.

In Dresden kaufte ich mir 2015 dieses schön gemachte Buch, in dem der Dresdner Uwe Tellkamp über seine Heimatstadt schreibt und zu dem der Dresdner Fotograf Werner Lieberknecht eine Menge Schwarzweißfotos beisteuerte.

Mühsam zu lesen

Das Buch hält aber leider nicht, was es auf den ersten Blick verspricht. Tellkamps Text ist – ganz im Gegensatz zu seinem wunderbar geschriebenen Roman „Der Turm“ – unsäglich mühsam zu lesen, und die Fotos sehen zwar gut aus, mehr als fast beliebige Impressionen aus Dresden sind sie aber auch nicht.

Was ist nun das Ärgerliche an Tellkamps Stil?

Er reiht und reiht und reiht Satzfetzen, fast wie Notizen und Stichwörter, aneinander, streut gelegentlich ein paar vollständige Sätze ein, und bald geht es wieder weiter in diesem Notizbuchstil. Oder es kommen gewaltige Satzmonster daher, ohne Rhythmus und Schwung, holprig, mit sperrigen Begriffen und nur Dresdnern geläufigen Bezeichnungen.

Ein beliebig herausgegriffenes Beispiel:

„Die Ostdeutschen hatten Hunger, kaum zu beängstigenden Freßgelagehunger nach Leben, nach Reisen. Sie wollten alles sehen, alles begreifen, alles nachholen, was sie versäumt hatten, alle Träume, und sofort, die in Hermann Haacks geographischen Atlanten eingesperrt gewesen waren. Ich hatte meinen Winkel auf dem Dachboden mit Landkarten tapeziert, dort hockte ich und reiste die schönsten Reisen der Welt, vor mir ein Lederkoffer, aus seinem Exil hinter den Tontöpfen gefischt, über und über bedeckt mit Hotelaufklebern in den musikalischen Farben der Belle Époque: Karl-May-Grün, das Ocker von Kairo, Wüstenblau, Weiß wie die Mauern der Souks, Indisch und Nanking-Gelb, Pompejanisch Rot, Amazonasfalter-Violett … Auf der Prager Straße lud ein Kran Container ab, Vorposten der Deutschen, Dresdner, Commerzbank. Begegnungen. Anna. Wir tanzen wie die Steptänzer, Fred Astaire ist gut, sehr gut sogar, dieser Kerl mit dem Heuschreckenleib und dem allzu bescheidenen Grinsen. Faunpalast, Parklichtspiele, Schauburg, der Fabelname eines längst geschlossenen Nickelodeons: Alabastra, Filmbühne Wölfnitz, die während einer Vorstellung abbrannte, die U. T.-Lichtspiele in der Waisenhausstraße, Dedrophon-Theater und Institut Kosmographia, Hansa-Lichtspiele … die Namen, die farbigen Traumschneisen, die die tschechischen und Ernemann-Projektoren ins erwartungsvolle Kinodunkel schlugen; Schwarzweißfilme im Hauptbahnhofkino, wo es orangefarbene Tapete gibt und eine Bommelmütze ein Heizungsleck abdichtet.“ (S. 97f)

Worum geht es inhaltlich?

Uwe Tellkamp präsentiert uns seine kunterbunt durcheinandergewürfelten Erinnerungen an das Dresden vor und kurz nach der Wende, die unverständlicher Weise „Erkundungen“ genannt werden. Er setzt dabei gewissermaßen voraus, dass wir seine engen Verwandten sind und daher ohnehin wissen, wie das so war, und uns daher mit ein paar andeutenden Stichwörtern zufriedener geben, als wenn er ausführlich schildern würde. Es tauchen alte Verwandte, Freunde, Lehrer, aber auch die Klavierlehrerin auf, daneben Dresdner Originale wie jene russische Matrone, die im Winter vor dem Heizhaus der russischen Kaserne stand. Die Mängelwirtschaft der letzten Jahre der DDR wird angedeutet, doch wirklich politisch wird das Buch zum Glück nie.

Durch die Andeutungstechnik ist es für den nun doch nicht mit Tellkamp verwandten Leser sehr schwer, in dem Wust den Durchblick zu behalten. Ich habe ihn jedenfalls verloren, weshalb mir weder das Figurenarsenal noch die Schauplätze, die ich von unserer kurzen Dresden-Reise zumindest oberflächlich kenne, lebendig geworden sind.

Tellkamp zuliebe und wegen der schönen Gestaltung des Buches – und aus Prinzip – biss ich mich bis zum Ende durch.

Uwe Tellkamp: Die Schwebebahn. Dresdner Erkundungen. Mit Fotografien von Werner Liederknecht. Insel-Verlag, Berlin, 4. Auflage, 2011. 165 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Blick vom Biergarten am Dach des Yenidze in Dresden, Tuchestift, Buntstift; 2015.

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Michael Büker: Ich war noch niemals auf Saturn. Eine Reise durchs Universum

Wolfgang Krisai: Die Wiener Urania. Tuschestift und Buntstift, 2015.

Michael Büker, Physiker in Dresden, ist auf unterhaltsame Präsentation von Wissenschaft spezialisiert. In diesem locker erzählten Taschenbuch nimmt er den Leser auf eine informative und zugleich unglaublich anschauliche „Reise“ durch das Universum mit.

Erstaunlicher Wissenszuwachs über das Weltall

Man erfährt in groben Zügen den aktuellen Stand der Astronomie und der Weltraumforschung im Jahr 2016. Es ist erstaunlich, was sich auf diesen Gebieten in den letzten zehn bis zwanzig Jahren getan hat. Allerlei Raumsonden und Weltraumteleskope haben unser Bild von den Planeten und Sternen ungeheuer bereichert, auch wenn nicht jede Mission von Erfolg gekrönt war. Das Sonnensystem wurde um zahllose Himmelskörper, die dank der verbesserten Teleskope sichtbar wurden, ergänzt – was allerdings Pluto seinen Status als Planet gekostet hat. Nun befindet er sich in Gesellschaft zahlreicher Zwergplaneten, von denen einige sogar größer sind als er, die im Kuyper-Gürtel außerhalb der Neptun-Umlaufbahn um die Sonne kreisen.

Im Inneren der Sterne

Auch die Vorgänge im Inneren der Himmelskörper werden geschildert, wo es zu wilden Zusammenballungen von Materie kommt und Expansionsdruck durch die Kernfusion und Schwerkraft gegeneinander kämpfen, bis ein Stern entweder zu einem schwarzen Loch wird oder langsam auskühlt.

Strandlektüre mit wissenschaftlichem Mehrwert

Das große Plus des Buches ist der lebendige, anschauliche Stil. Strandlektüre mit wissenschaftlichem Mehrwert, sozusagen.

Der Nachteil ist die karge Bebilderung, die sich auf einige lustige Grafiken beschränkt. Büker rechnet wohl damit, dass der moderne Leser sofort sein Smartphone zückt und die reichlich angegebenen Internetquellen nach Bildern durchforstet.

Lauter Internet-Quellen

Diese Liste der Quellen bot für mich ein Aha-Erlebnis: Internetquellen überwiegen bei weitem, vorbei ist die Zeit von Literaturverzeichnissen, die voller Papierbücher sind, zumindest in sich so rasch weiterentwickelnden Sparten wie der Astronomie, wo der gesamte Informationsfluss schon ins Internet migriert ist.

Weiterführende Bücher

Trotzdem kaufte ich mir gleich einmal ein schöne Papierbuch zum Thema „Weltall“: ein Dorling-Kindersley-Jugendbuch. Hier wird in schönen Graphiken aufbereitet, was Büker in Worten dargestellt hat. Und ein anderes Buch voller wunderbarer Fotos aus dem Weltall bekam ich geschenkt: „Juwelen des Universums“.

Michael Büker: Ich war noch niemals auf Saturn. Eine Reise durchs Universum. Illustrationen: Veronika Mischitz, Kirschvogelkantine. Ullstein-Taschenbuch, Ullstein, Berlin 2016. 396 Seiten.

Weltall. Das Universum in spektakulären Bildern. Reihe DK Wissen. Dorling Kindersley, München 2016. 208 Seiten.

Rhodri Evans: Juwelen des Universums. Die spektakulärsten Bilder aus dem All. Frankh-Kosmos, Stuttgart 2016. 192 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Die Wiener Urania. Tuschestift und Buntstift, 2015. – Zufällig war ich mit meinem Skizzenbuch zugegen, als im Sommer 2015 am helllichten Tag die Kuppel der Sternwarte der Wiener Urania geöffnet und das darin befindliche Fernrohr sichtbar wurde. – Die Urania ist heute eine Volkshochschule und ein Kino, geplant wurde das Gebäude vom Otto-Wagner-Schüler Max Fabiani, die Eröffnung fand 1910 statt. In der Kuppel der Sternwarte befindet sich ein 8-Zoll-Fernrohr der Firma Zeiss.

 

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Cordula Koepcke: Lou Andreas-Salomé

Wolfgang Krisai: Der Winterpalast (heute: Ermitage) in St. Petersburg. Tuschestift. 2016

Anlässlich des im Herbst 2016 herausgekommenen biographischen Spielfilms „Lou Andreas-Salomé“, dessen Premiere ich im Wiener Filmcasino miterlebte, las ich eine bei mir schon länger im Regal wartende Biographie über diese „Muse“ der Zeit um 1900.

Cordula Koepcke beschreibt Lous Leben und Werk in angemessener, manchmal schon übertriebener Ausführlichkeit, sodass man ein lebendiges und facettenreiches Bild dieser außergewöhnlichen Frau erhält. Außergewöhnlich ist sie vor allem durch ihren Intellekt, mit dem sie Größen wie Nietzsche oder Freud anregende Gesprächspartnerin und – im Falle Freuds – Kollegin sein konnte, und durch ihr ungewöhnliches Verhältnis zur Sexualität und zu Männern.

„Kein Sex!“

Lou hielt sich nämlich jahrzehntelang an die Devise: „Kein Sex!“ Das galt sogar für ihre Ehe mit dem namhaften Orientalisten Friedrich Carl Andreas, die sie nur unter dieser Bedingung eingegangen war. Sehr zum Missvergnügen des Ehemannes, der gehofft hatte, es handle sich dabei um eine Mädchenschrulle, die sich mit der Zeit legen werde. Als Lou eisern blieb, kam es einmal zu einer versuchten Gewaltanwendung des Ehemanns gegenüber der schlafenden Frau, die dann ihrerseits, halb erwacht, den Eindringling kräftig würgte. Keine erfreuliche Sache. Andreas zeugte später mit der Haushälterin eine Tochter, die Lou im Alter betreute und von dieser ganz in die Familie aufgenommen wurde. (Im Film wird sie als Adoptivtochter bezeichnet, im Buch ist davon nicht die Rede.)

Der von Lou erhoffte und entgegen aller damals herrschenden Konvention auch realisierte Vorteil der asexuellen Männerbeziehung war, dass sie mit mehreren Männern platonische Freundschaften mit höchstem geistigem Anspruch pflegen konnte.

Heiratsantrag eines Pastors

Das begann schon in ihrer Jugend, wo sie den faszinierenden evangelischen Pastor Hendrik Gillot kennenlernt und bei ihm eine Art privaten Religionsunterricht bekommt, da ihr der offizielle Konfirmandenunterricht nicht zusagt. Während Lou in Gillot gleichsam einen Gott sieht, ist es umgekehrt nicht ganz so. Der – verheiratete! – Pastor macht dem fünfzehnjährigen Mädchen einen Heiratsantrag, angesichts dessen Lou aus allen Wolken fällt und vor Gillot die Flucht ergreift. Dennoch bleibt eine lange, lose Beziehung, und Gillot traut Lou – allerdings zähneknirschend – schließlich sogar höchstpersönlich mit Andreas.

Geboren 1861 in St. Petersburg

Die Geschichte mit Gillot spielte sich in Lous Geburtsort St. Petersburg ab, wo sie 1861 als Tochter eines deutschstämmigen Generals im Gebäude der Generalität gegenüber dem Winterpalast, der heutigen Ermitage, zur Welt kommt. Sie hat mehrere Brüder, mit denen sie zeitlebens ein inniges Verhältnis verbindet.

Wohngemeinschaftsprojekt „Dreieinigkeit“

Da Lou unbedingt studieren will, muss sie nach Zürich gehen, der einzigen Universität Europas, wo damals auch Frauen studieren durften. Sie lernt dort Paul Rée kennen, einen jungen Philosophen, der mit Friedrich Nietzsche befreundet ist und diesen mit Lou bekannt macht. Lou träumt davon, mit den beiden Männern in einer platonischen WG, genannt „Dreieinigkeit“, zu leben. Große Aufregung in der Familie! Doch Lou gibt nicht nach und will ihren Traum partout realisieren. Und das, obwohl ihr sowohl Rée als auch Nietzsche nacheinander Heiratsanträge gemacht haben. Die sie selbstverständlich zurückgewiesen hat. Nietzsche ist dadurch allerdings verstimmt, zudem arbeitet seine intrigante Schwester Elisabeth im Hintergrund eifrigst gegen die von ihre gehasste Lou, sodass aus der „Dreieinigkeit“ nichts wird.

Malwida von Meysenbug

Lou erkrankt an einer Lungenkrankheit (die sich nach einigen Jahren wieder verliert) und muss auf Anraten der Ärzte einige Zeit im Süden verbringen. Sie geht mit ihrer Mutter nach Rom, wo sie die einflussreiche Malwida von Meysenbug kennenlernt, die sie unter ihre Fittiche nimmt und mit vielen wichtigen Persönlichkeiten bekannt macht. Auch Malwida versucht Lou von der Wohngemeinschaftsidee abzubringen – vergeblich.

Paul Rée und Friedrich Carl Andreas

Kaum wieder zurück im Norden, zieht Lou mit Rée in Berlin zusammen. Rée ist so ein dezenter und höflicher Herr, dass das Experiment sogar einige Zeit gut geht. Rée leidet allerdings still vor sich hin, und das umso mehr, als Friedrich Carl Andreas auf den Plan tritt, der Lou augenblicklich fasziniert und für sich gewinnt. Unter der schon genannten Bedingung.

Es dauert allerdings nicht lang, bis Lou wieder einen anderen Mann behext, diesmal den Politiker Georg Ledebour, der sich einige Monate energisch um sie bemüht. Lou ist hin und her gerissen zwischen Andreas und Ledebour, entscheidet sich schließlich aber für ihren Ehemann.

Rainer Maria Rilke

Einige Jahre später tritt jener Mann in Lous Leben, durch dessen Biographie ich sie kennenlernte: Rainer Maria Rilke. Er ist wesentlich jünger als sie, schreibt ihr künstlerisch unausgegorene Liebesgedichte und bringt in ihr Saiten zum Schwingen, die sie bisher standhaft unterdrückt hatte. Gemeinsam reisen sie zweimal nach Russland, beim zweiten Mal überraschen sie den wenig begeisterten alten Tolstoi auf seinem Landgut. Sie begeistern sich beide für das russische Landleben und sehen in Russland jenes Land und jene Kultur, die zwischen West und Ost vermitteln und damit dem Westen wichtige Anregungen aus dem Osten bringen könne.

Rilke und Lou verleben auch einige Wochen auf einem Landhaus, genannt „Loufried“, in Bayern, wo es dem erotisch erfahreneren Rilke schließlich gelingt, Lou zum Bruch ihres Grundsatzes zu bringen. Für Lou erschließt sich damit erst die Welt der Liebe. Rauschhafte Wochen, die eigentlich nach Ewigkeit schreien – aber dafür ist Lou nicht geschaffen. Schon bald beginnt Rilke sie zu langweilen, und die beiden trennen sich wieder.

Erst einige Jahre später nimmt Rilke den Kontakt brieflich wieder auf, und bis zu seinem Tod ist Lou dann eine einfühlsame Beraterin in Krisenzeiten. Der Kontakt wird großteils brieflich gepflegt, auch wenn es immer wieder zu – nun wieder platonischen – gemeinsamen Reisen kommt.

Haus „Loufried“ in Göttingen

In Erinnerung an jene schöne Zeit mit Rilke nennt Lou das Haus, in das sie mit Andreas nach dessen Berufung an die Universität Göttingen zieht, ebenfalls „Loufried“. In diesem Haus am Rande Göttingens führt Lou, sofern sie nicht gerade auf einer ihrer ausgedehnte Reise ist, ein zurückgezogenes Leben. Sie pflegt einen dem ihres Mannes diametral entgegengesetzten Rhythmus: Während Andreas abends und die halbe Nacht über Vorlesungen hält – im Erdgeschoß – und danach bis zum Morgengrauen arbeitet, dafür aber den Tag verschläft, bemüht sich Lou um einen gesunden Lebensstil nach den Vorstellungen der damaligen „Naturmenschen“ und den ihr von ihrem Arzt wegen ihrer Herzbeschwerden vorgeschriebenen Regeln: gesund essen, Bewegung machen, früh ins Bett gehen.

Dieser Arzt ist übrigens ein weiterer ihrer Liebhaber: der Wiener Friedrich „Zemek“ Pineles. Er begleitet sie als ihr „Leibarzt“ immer wieder auf Reisen.

Sigmund Freud

Diese führen sie für längere Zeit nach Paris, aber auch nach Wien, wo sie schließlich jenen Mann kennenlernt, der ihre zweite Lebenshälfte geistig bestimmt: Sigmund Freud.

Lou wird schnell in den engsten Kreis der Schüler Freuds aufgenommen und steigt bald vom Rang der Schülerin zu jenem der Kollegin auf, mit der Freud in regem Austausch, sei es mündlich, sei es brieflich, steht. Lou beginnt selbst die Psychoanalyse zu praktizieren und hat bald in Göttingen eine Menge Patienten. Sie verfasst psychoanalytische Essays, die sich vor allem mit Fragen der Religion und der Kunst auseinandersetzen und in der Zeitschrift „Imago“ erscheinen.

Die Schriftstellerin

Schriftstellerische Tätigkeit ist von allem Anfang an ein wichtiger Teil ihres Lebens. Sie schreibt Erzählungen, Romane, Essays und Kritiken. Eigentlich sind das immer ganz persönliche, private Werke, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, doch wenn es an Geld mangelt – was vor der Berufung ihres Mannes nach Göttingen durchaus vorkommen konnte – muss sie sich über solche Bedenken hinwegsetzen. Die Essays und Kritiken sind ohnehin für die Veröffentlichung und zum Gelderwerb geschrieben.

Da gibt es zum Beispiel den Roman „Das Haus“, aber auch die Erzählung „Ruth“, die Rilke immerhin so beeindruckte, dass er seine Tochter danach benannte. Auf nichtfiktionalem Gebiet gibt es z. B. Bücher über Nietzsche oder „Die Erotik“.

Einige Werke wurden erst aus dem Nachlass veröffentlicht. Als Nachlassverwalter gewinnt Lou in ihren letzten Lebensjahren einen jungen Mann, der sich zunächst wegen psychologischer Beratung an sie wandte, bald aber zum Freund und intensiven Gesprächspartner wurde: Ernst Pfeiffer.

Lebensrückblick

Mit ihm sah sie auch ihre in den Dreißigerjahren entstandenen Memoiren durch, die allerdings erst 1979 als „Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen“ erschienen.

Von den diktatorischen Maßnahmen der Nazis nahm Lou kaum noch Notiz, sie blieb vor Nachstellungen verschont, obwohl sie die „jüdische“ Psychoanalyse betrieb. Die Patienten wurden allerdings merklich weniger.

Schließlich stirbt Lou 1937 eines sanften Todes.

Ich habe noch kein Werk Lou Andreas-Salomés gelesen. In der Biographie wird ausführlich aus ihren Werken zitiert, sodass man einen Eindruck von Lous reichlich exaltiertem Stil bekommt, der wohl zeittypisch ist. Es wundert mich nicht, dass jemand, der so schreibt, eine Beziehung zu Rilke haben konnte.

Cordula Koepcke: Lou Andreas-Salomé. Leben. Persönlichkeit. Werk. Ein Biographie. Insel Verlag, Frankfurt, 1986. Insel Taschenbuch 905. 463 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Der Winterpalast (heute: Ermitage) in St. Petersburg. Tuschestift. 2016. Gegenüber diesem Gebäude wurde Lou Andreas-Salomé geboren.

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Ursula Pfistermeister: Nürnberg

Wolfgang Krisai: Faber-Castell'sches Schloss in Stein bei Nürnberg. Gezeichnet mit Faber Castell PITT Artisti Pen black fine und Faber Castell Albrecht Dürer Farbstiften, 2016.

Dieses in 4., verbesserter Auflage 1991 erschienene Buch vermittelt einen interessanten Einblick Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg. Dabei ist der Aufbau höchst ungewöhnlich:

Eine Geschichte der Stadt in Zitaten

Zunächst sind auf 70 Seiten zahlreiche Zitate bedeutender Persönlichkeiten aus Nürnberg versammelt, die die verschiedensten Aspekte der Stadt behandeln. Dazwischen sind historische Ansichten der Stadt eingestreut.

Abbildungs- und Textteil

Danach folgen 60 Seiten, auf denen jeweils eine Seite erläuternder Text einer Farbabbildung gegenübersteht.

Schließlich folgt ein Informationsteil von weiteren 60 Seiten, wo Geschichte, Architektur, Musik, Brauchtum und Kulinarik überblicksmäßig behandelt werden.

Was ist mir besonders aufgefallen:

Blütezeit im Spätmittelalter

Nürnbergs Blütezeit waren das Spätmittelalter und die Renaissance. Man denke an Albrecht Dürer, Hartmut Schedels Weltchronik, Veit Stoß oder Adam Kraft. Kaiserliche Privilegien ließen den Handel und das Handwerk aufblühen, man war der zentrale Umschlagplatz des Fernhandels in Deutschland, metallverarbeitendes Handwerk brachte es zu höchster Blüte. Ein aus Patriziern gebildeter Stadtrat regiert offensichtlich mit großem Geschick.

Metropole der Bleistifterzeugung

Doch dieses Patriziat nützte im 17. und 18. Jahrhundert seine Rechte so sehr aus, dass die Mitbürger unter einer immensen Steuerlast zusammenzubrechen drohten. Wer irgendwie konnte, verließ die Stadt. Um 1800 war Nürnberg trotzdem de facto bankrott, Opfer der eigenen Misswirtschaft. Erst das 19. Jahrhundert, wo Nürnberg zu Bayern kam, brachte neuen Aufschwung. Man denke an die erste deutsche Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth oder an die Bleistifterzeugung von Faber-Castell.

Zu 90 Prozent zerstört

Im Zweiten Weltkrieg wurde die historische Altstadt von Nürnberg zu 90% zerstört, danach in Anlehnung an die historischen Gegebenheiten wieder aufgebaut. Das Buch weist immer wieder darauf hin, was von den heute bestehenden Bauwerken alt ist und was nach 1945 erneuert.

Ursula Pfistermeister: Nürnberg. Zauber einer unvergänglichen Stadt in Farbbildern und alten Stichen. 4., verb. Aufl., Carl-Verlag, Nürnberg, 1991. 199 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Faber-Castell’sches Schloss in Stein bei Nürnberg. Gezeichnet mit Faber Castell PITT Artisti Pen black fine und Faber Castell Albrecht Dürer Farbstiften, 2016. – In einem kleinen Nebengebäude des Schlosses befindet sich ein Paradies für Faber-Castell-Fans: der Faber-Castell-Shop. Mit Parkplatz davor. 

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Edward Rutherfurd: New York

Wolfgang Krisai: Garten vor dem Freedom Tower, New York. Tuschestift, Buntstift. 2016.

Edward Rutherfurd kenne ich seit langem, seit ich seinen Roman „Sarum“ gelesen habe. Inzwischen hat er einige weitere historische Romane über bestimmte Orte im Lauf der Geschichte geschrieben, unter anderem über London, New York und zuletzt Paris.

Als ich im Sommer in New York war, wollte ich mir zwar so wenige Bücher wie möglich kaufen, in einer Barnes & Noble-Filiale in Brooklyn wurde ich aber doch schwach, als ich die Taschenbuchausgabe von „New York“ sah. Wäre doch die genau passende Nachbereitung einer NY-Reise! Also kaufte ich das Buch, um 18 $.

Am nächsten Tag besuchten wir die berühmte Buchhandlung Strand am Broadway in der Nähe des Union Square. Und was finde ich dort? Die gebundene, fadengeheftete Originalausgabe von „New York“ antiquarisch um 9 $! Kaufen? Ich lese doch viel lieber gebundene Bücher. Also kaufe ich diese Ausgabe und tausche tags darauf die Taschenbuchausgabe bei Barnes & Noble am Union Square (jener Buchhandlung mit dem tollen Café mit den Schriftsteller-Wandgemälden) gegen ein Buch über Urban Sketching um. Damit habe ich also schon zwei Bücher in NY gekauft. (Tatsächlich sollten es dann noch zwei weitere werden im Lauf der Zeit. Was ein Rekord an Selbstbeschränkung ist, der nur durch die Gewichtsobergrenze des Fluggepäcks bedingt ist. Gäbe es die nicht, wer weiß, wieviele Bücher ich gekauft hätte…)

Nun aber zu „New York“:

Rutherfurds Methode ist folgende: Erfinde vier, fünf Familien, die an einem gemeinsamen, bedeutenden Ort leben, und verfolge deren Geschicke über die Jahrhunderte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Lasse ganz nebenbei historische Informationen einfließen, sodass deine Leserinnen und Leser – dem Horaz’schen Grundsatz des „delectare et prodesse“ gemäß – auf unterhaltsame Weise die Geschichte des betreffenden Ortes kennenlernen.

1664 bis 2009

In New York ist es die Zeit von 1664 (die Kapitel haben Jahreszahlen als Überschrift) bis 2009. Es beginnt mit der Familie van Dyck: Der Pelzhändler Dirk van Dyck bringt seine uneheliche Tochter Pale Feather, deren Mutter eine schöne Indianerin aus einem Dorf etwas nördlich von Neu Amsterdam ist, mit in die Stadt. Irgendwie will er sie seiner Frau Margaretha vorstellen, einer recht resoluten Dame, mit der er seit Jahren glücklich verheiratet ist. Natürlich will er nicht verraten, dass Pale Feather seine Tochter ist – doch Margaretha durchschaut den Sachverhalt instinktiv und verlangt, das Mädchen müsse verschwinden. Was Dirk, der seine Tochter sehr liebt, zu vielen Jahren eines Doppellebens zwingt. Margaretha wiederum nimmt Dirks Fehltritt als Freibrief, herrschsüchtig zu werden. Dirk lässt sich zwar nicht alles gefallen, aber Margarethas Verhalten macht weder sie noch ihn noch ihre Kinder glücklich. Mit der Tochter Clara gibt es ohnehin nur Streit.

Bei einem Besuch im Indianerdorf schenkt Pale Feather ihrem Vater einen Wampum-Gürtel. Das ist ein kostbares, von ihr selbst gesticktes Stück, mit der indianischen Aufschrift: „Vater von Pale Feather“. Dirk solle ihn immer tragen. Was er zwar verspricht, aber in Neu Amsterdam nicht hält. Obwohl dort ohnehin niemand die Aufschrift lesen könnte.

Dirk überlebt sowohl seine indianische Partnerin wie auch seine indianische Tochter. Die beiden Kapitel, in denen er vom Tod der beiden Frauen erfährt, waren für mich die ergreifendsten des ganzen Romans. Den Wampum-Gürtel vererbt Dirk an seine Tochter Clara, die ihn wieder an eines ihrer Kinder vererbt, und so weiter, bis der Gürtel schließlich am 11. September 2001 vom nunmehrigen Besitzer an eine Freundin weitergeschenkt wird, da er von dem einstigen Wunsch Dirk van Dycks, der Gürtel solle innerhalb der Familie bleiben, nichts mehr weiß. Sarah Adler, die neue Besitzerin, hat am 11. September 2001 in einem der Twin Towers eine Besprechung und stirbt bei dem Anschlag. Der Wampum-Gürtel verpufft mit ihr zu Asche, die im Wind verweht.

Reiche Kaufleute und Bankiers

Die Familie, die im Roman die „Hauptrolle“ spielt, ist jene, in die Clara van Dyck einheiratet: die Masters. Tom Master begegnet, nachdem er nach Amerika ausgewandert ist, in der Wildnis Dirk van Dyck. Im Lauf der Zeit gehen die beiden eine Partnerschaft ein.

Die Masters entwickeln sich zu einer reichen Kaufmannsfamilie in New York, im 20. Jahrhundert wechseln sie ins lukrativere Bankfach, ein aus der Art geschlagener Master, Charlie, wird sogar – als Zeitgenosse und Bekannter Hemingways, O’Neills, Fitzgeralds – Schriftsteller. Er ist es übrigens, der mit Sarah Adler eine Liebesbeziehung hat, sie sogar heiraten möchte, doch Sarah, als Jüdin, lehnt schweren Herzens ab, da ihre Familie überzeugt ist: Wer eine oder einen Nichtjuden heiratet, bringt Unglück über die Familie und sich selbst.

Der letzte Master, den wir kennenlernen, ist Charlies Sohn aus einer geschiedenen Ehe, Gorham, der wie sein Großvater Bankier wird, aber in diesem Beruf nicht das hohe Niveau erreicht, das er gern erreichen würde. Das wurmt ihn so sehr, dass er einen Headhunter beauftragt, für ihn einen wirklich hohen Posten zu suchen. Am 11. September 2001 soll er – natürlich im World Trade Center – nun diesen Headhunter treffen, der für ihn in Boston einen Bankdirektorsposten gefunden hat. Unmittelbar davor trifft er sich mit Sarah Adler, die er kurz davor zufällig kennengelernt hat, und sie erzählt ihm von ihrer Liebe zu seinem Vater. Sie will ihm den Wampum-Gürtel zurückgeben, den Charlie Master ihr einst geschenkt hat. Gorham fasst Vertrauen zu der Frau und fragt sie um Rat in der Frage des Jobwechsels. Sie rät energisch ab. Er solle lieber seine Familie in New York glücklich machen, statt in Boston ein paar Millionen Dollar mehr zu scheffeln. Gorham schenkt ihr daraufhin den Wampum-Gürtel zurück, und sie nimmt ihn zu ihrer eigenen Besprechung (sie ist Galeristin) in WTC mit.

Gorham hingegen fährt zwar zum WTC, geht dann aber doch nicht hinein, sondern sagt dem Headhunter ab. Zufällig hat auch Gorhams Frau Maggie an diesem Tag im WTC ein geschäftliches Treffen (sie ist Anwältin), zum Glück in einem der unteren Stockwerke, sodass sie nach dem Anschlag aus dem Gebäude fliehen kann und nach dem Einsturz des Gebäudes den völlig verstaubten Ehemann irgendwo am Straßenrand sitzend findet.

Maggies Gynäkologe Dr. Caruso ist ebenfalls zufällig im WTC, auch in einem der unteren Stockwerke, und stellt sich als Arzt sofort den Rettungskärften zur Verfügung. Er kann das Gebäude verlassen und wird zu seinem Glück zur Trinity Church einige hundert Meter weit entfernt geschickt, weil dort die Verletzten versammelt werden. Auch Dr. Caruso stammt aus einer jener Familien, deren Geschick man durch mehrere Generationen verfolgt hat.

Der 11. September als finaler Knotenpunkt

Ist das nun gut, dass Rutherfurd den 11. September 2001 sozusagen zum finalen Knotenpunkt der Handlung macht? Selbstverständlich konnte er das Ereignis nicht ignorieren, sondern musste es in die Handlung sinnvoll einbauen, immerhin ist es das markanteste Geschehnis in New York des neuen Jahrtausends. Und man weiß: Die Welt ist ein Dorf. Es gibt die seltsamsten Zusammentreffen. Warum also sollten nicht ausgerechnet am 11. September vormittags Vertreter aller wichtigen Familien des Romans zufällig im WTC sein?

Wer sind nun die weiteren wichtigen Familien:

Eine Familie schwarzer Sklaven

Da wäre zum Beispiel die Familie des schwarzen Sklaven Quash, der das ganze zweite Kapitel aus seiner Perspektive erzählen darf. (Sonst gibt es dieses Ausbrechen aus der auktorialen Erzählperspektive nicht.) Er ist Sklave Dirk van Dycks, dieser verspricht ihm allerdings, ihm in seinem Testament die Freiheit zu schenken. Die herrische Margaretha van Dyck weiß dies aber zu verhindern und verkauft ihn an einen brutalen Plantagenbesitzer. Tochter Clara van Dyck und ihr Mann machen ihn dort jedoch ausfindig und kaufen ihn zurück. Schenken ihm tatsächlich die Freiheit, behalten ihn aber als Angestellten.

Das Ende der Familie von Quash, die später den Familiennamen River und den häufigen Vornamen Hudson bekommt, kommt mit dem amerikanischen Bürgerkrieg, in dem die New Yorker zahllose Schwarze lynchen, von denen sie befürchten, sie würden ihnen ihre Jobs stehlen. Der letzte Hudson River wird zwar von seinem Chef Sean O’Donnell versteckt, schleicht aber aus dem Versteck auf die Straße, wird vom Mob erwischt und aufgehängt.

Aus schlechtem Hause

Die O’Donnells sind eine weitere wichtige Familie. Sie stammen aus einem Armenviertel New Yorks, der Vater ist Trinker und ein Taugenichts, Sohn Sean wird ein halber Mafioso, Tochter Mary O’Donnell bekommt einen Job als Hausmädchen bei Hetty und Frank Master Ende des 19. Jahrhunderts. Den Job bekommt sie nur, weil ihre Freundin Gretchen Keller beim Vorstellungsgespräch dabei ist und das Blaue vom Himmel lügt, wie seriös die Familie O’Donnell nicht sei.

Mary wird im Lauf der Jahre zur Freundin der Hausherrin Hetty Master und steht ihr bis zu ihrem Lebensende zur Seite.

Frank Master – der ein von Hetty toleriertes Verhältnis mit einer Schauspielerin hat – fördert den Bruder von Gretchen Keller, den Fotografen Theodore Keller. Diesen hätte Mary gern geheiratet, aber die Umstände verhindern das damals.

Eine italienische Familie

Die italienische Familie Caruso vertritt im Roman die italienischstämmigen Amerikaner. Anna Caruso kommt bei einem Brand der Textilmanufaktur, wo sie unter schlechten Bedingungen arbeitet, um. Ihr Bruder Paolo schließt sich der Mafia an und wird in einer Fehde erschossen. Ihr zweiter Bruder Angelo wird Künstler und der dritte, Salvatore, wird Maurer und arbeitet am Bau des Empire State Building mit. Zwischen Angelo und ihm besteht ein gespanntes Verhältnis, weil dieser ihm seine Freundin, Teresa, wegschnappt. Als Angelo eines Tages auf der Baustelle des Empire State Buildings zeichnen kommt, passiert fast eine Katastrophe: Angelo droht vom Wind in die Tiefe gerissen zu werden, Salvatore kann ihn gerade noch retten, verliert aber selbst das Gleichgewicht, stürzt ab – wird von einem heftigen Aufwind aber wieder durch ein Fensterloch ins Gebäude gerissen und bricht sich nur das Bein.

Darf ein Romanheld solch unverschämtes Glück haben? Ja. Das gibt’s im Leben eben auch: unverschämtes Glück.

Übrigens hat die Familie Caruso noch ein anderes Glück: die Namensgleichheit mit dem berühmten Sänger Caruso. Dieser speist sogar einmal mit den Carusos und erweist sich als wahrhaft süditalienisch großzügig.

Welche Abschnitte der Geschichte New Yorks stehen im Mittelpunkt?

Der Unabhängigkeitskrieg

Der bedeutendste Schwerpunkt ist sicher der Unabhängigkeitskrieg, der über viele Kapitel ausführlichst behandelt wird, was hochinteressant ist. Man erlebt den Krieg aus dem Blickwinkel jener mit, die meist weitab von den eigentlichen Schlachtfeldern leben, die Auswirkungen des Krieges aber deutlich zu spüren bekommen.

Hier macht Rutherfurd einen schlauen Schachzug: Ende des 18. jahrhunderts ist John Master der Patriarch der Familie. Er ist zunächst überzeugter Loyalist, was bedeutet, dass er im Unabhängigkeitskrieg auf der Seite Englands steht. Sein Sohn James hingegen, der lange Jahre in England studiert und gearbeitet hat, ist von dieser Nation so enttäuscht (politisch und persönlich), dass er sich den Vertretern der Unabhängigkeitsbewegung, den Patriots, anschließt, und unter George Washington als Offizier kämpft. Die Masters in New York bekommen von James einstigem Freund Grey Albion, Sohn eines Londoner Geschäftspartners und persönlichen Freunds Johns, Besuch, der als Offizier in der englischen Armee dient.

Als John Master erleben muss, unter welch unmenschlichen Bedingungen die Engländer ihre amerikanischen Kriegsgefangenen vegetieren und sterben lassen, wird seine loyalistische Einstellung jedoch erschüttert, sodass er, als New York belagert wird, den Soldaten Washingtons sein Haus öffnet und sie verköstigt.

Natürlich kommt es zu einer Begegnung zwischen James und Grey im Felde. Grey hat sich in James’ Schwester verliebt, will sie sogar heiraten. Davon hat James erfahren. Als er nun Grey im Schlachtgetümmel vor die Pistole bekommt, lässt er ihn nur unter der Bedingung leben, dass er von seiner Schwester ablasse. Was dieser schließlich verspricht.

Auch der amerikanische Bürgerkrieg spielt in der Handlung eine bedeutende Rolle, vor allem, weil damit auch die Frage der Sklaverei verbunden ist.

Wirtschaftskrise

Später geht es vor allem um das wirtschaftliche Auf und Ab, das in der Wirtschaftskrise der Dreißiger Jahre gipfelt. Hier ist es der Heilige Antonius, der Onkel Luigi aus der Caruso-Familie vor dem Verlust sämtlicher Ersparnisse rettet: Luigi hebt nämlich knapp vor dem Börsenkrach alle seine Ersparnisse von seinem Konto ab, weil er schon ein seltsames Gefühl hatte und ihn die Sonntagspredigt des Pfarrers, der über die Versuchungen Christi predigte, darin bestärkt hatte, es am Finanzmarkt nicht zu übertreiben.

Auch William Master, damals Senior der Familie, geht knapp ab Ruin vorbei. Sein Vermögen hätte sich in Luft aufgelöst, wenn ihm nicht seine Frau Rose unter dem Vorwand, auf Long Island ein luxuriöses Sommerhaus zu bauen, mehr als eine halbe Million Dollar entlockt hätte. In Wahrheit ahnte sie den Börsenkrach voraus, weil sie kein so unbedingtes Vertrauen auf die Tragfähigkeit der Finanzwelt hatte wie ihr Mann, und legte das Geld so an, dass es die Krise überdauerte. Das Sommerhaus war pure Fiktion.

Der Blizzard von 1888

Eine sehr eindrucksvolle Stelle ist auch die Schilderung des Blizzards von 1888, wo eine Romanfigur sich mühsam im Sturm über die Brooklyn Bridge kämpft.

Stilistisch stellt der Roman an den Leser keine großen Ansprüche, denn er befindet sich ganz in der Tradition der großen Unterhaltungsromane der Gegenwart. Literarische Experimente wären da fehl am Platz. Auch sprachlich war die englische Version für mich gut zu bewältigen, Google musste bei manchen Begriffen aushelfen, die nicht einmal in meinem Wörterbuch standen, wie „speakeasy“ (eine Spelunke, wo während der Prohibitionszeit illegal Alkohol ausgeschenkt wurde) oder „bootleg“ (Schmuggel). Auch den Englischen Begriff für Scharmützel lernte ich: „skirmish“.

Dem Roman sind einige Landkarten von New York in seiner historischen Entwicklung vorangestellt, leider aber kein Personenverzeichnis, das dem Leser in der Fülle der Figuren Orientierung verschafft hätte.

Edward Rutherfurd ist übrigens ein Pseudonym, wie mich Wikipedia belehrt hat.

Edward Rutherfurd: New York. The Novel. Doubleday, New York u. a., 2009. 862 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Garten vor dem Freedom Tower, New York. Tuschestift, Buntstift. 2016.

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1365 – 2015 – 2065. Etwas andere Geschichten der Universität Wien

Wolfgang Krisai: Schriftliches Examen. Füllfeder, 2015.
Zum Jubiläumsjahr 650 Jahre Universität Wien (1365-2015) gab es auf dem Blog der Universität Wien eine besondere Lektüre: Monat für Monat eine Geschichte über eine fiktive Studentin bzw. einen fiktiven Studenten aus den vergangenen Jahrhunderten der Uni Wien.

Inzwischen sind diese Beiträge, ergänzt um einen im Jahr 2065 spielenden, als Buch veröffentlicht: „1365 – 2015 – 2065. Etwas andere Geschichten der Universität Wien“.

1388: Johann kommt aus Halberstadt nach Wien

Es beginnt mit „Johann“, einem Studenten der Sieben Freien Künste an der „hoen schuel“ zu Wien, im Februar 1388: Er stammt aus Halberstadt und wurde vom dortigen Bischof, bei dem seine Mutter als Haushälterin arbeitet und der ein ihm unerklärliches Wohlwollen ihm gegenüber an den Tag legt (grins), für ein Studium an der neu gegründeten Uni Wien ausersehen. Immerhin hatte Johann schon als Kind eine besondere Begabung für Latein gezeigt. Nach wochenlanger Wanderung ist er in Wien angekommen, wird von den Torwachen überaus streng behandelt (weshalb er die Stadt auch so bald nicht mehr verlassen will) und schwitzt jetzt über lateinischen Texten.

Die nächste Geschichte versetzt uns in die Zeit des Humanismus, wo der „Bummelstudent“ Ulrich sich 1461 nicht zum Arbeiten entschließen kann.

Februar 1524 geht es mit dem „angehenden medicus“ Martin weiter, 1673 mit Albrecht, usw.

1939: der Urgeschichtestudent Heinrich

Rund die Hälfte des Buches nimmt das 20. Jahrhundert ein. Da gibt es z. B. den Urgeschichtestudenten Heinrich, der 1939 mit einem  nationalsozialistischen Professor eine Exkursion macht und gar nicht richtig begreift, was da an politischen Untaten von seinem Professor (der kurzzeitig NS-Minister war und für die Entlassung sämtlicher jüdischer Professoren verantwortlich zeichnete) angerichtet wurde.

Ende Mai 1945 wundert sich der Student Wilhelm, warum das Fach „Volkskunde“, das er studieren will, plötzlich nicht mehr angeboten wird.

Studieren im Jahr 2065

Und wie wird es 2065 sein? Winona studiert an der „Neuen Universität Wien“ eher wie eine heutige Fernstudentin. Nur zu wichtigen Universitäts-Anlässen wie dem Abschlussfest fährt sie von ihrem Heimatort wirklich nach Wien. Alles andere wird per Datenhelm nur noch digital erledigt. Sie erinnert sich aber leicht amüsiert an eine vor kurzem geschehene kleine Revolte unter den Studenten, die die Digitalisierung des Studiums aushebeln wollten, indem sie nur noch gedruckte Texte lasen. Eine kurzlebige Renaissance des papierenen Buches…

Das kleine Bändchen gibt einen netten Einblick in die Geschichte und den Alltag der Universität Wien während ihres 650jährigen Bestehens. Einige Schwarzweißabbildungen ergänzen den Text.

Die Geschichten sind keine literarischen Meisterwerke, aber darüber wird der interessierte Leser wohlwollend hinwegsehen.

1365 – 2015 – 2065. Etwas andere Geschichten der Universität Wien. Hg. v. Marianne Klemun u.a. Böhlau, Wien u.a., 2015. 170 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Schriftliches Examen. Füllfeder, 2015.

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Haben Sie das alles gelesen? Ein Buch für Leser und Sammler

Wolfgang Krisai: Lesepult und Bücherregale. Tuschestift, Farbstift, 2016.Ich liebe Bücher über Bibliotheken. In vielen von ihnen werden Bibliotheken vorgestellt, die vor allem aus ästhetischen Gründen interessant sind, was so weit gehen kann, dass ein Besitzer seine Bücher offenbar nach Farbe ausgewählt hat und die gesamte Bibliothek in Weiß gehalten ist. Andere wiederum tun sich durch aufwändige Regalarchitektur hervor. Irgendwie hat man dabei das Gefühl, diese Bibliotheken gehörten bestenfalls Sammlern, jedoch keinen Lesern.

Bei der Buch Wien 2015 entdeckte ich jedoch eine Ausnahme, das von Klaus Walther und Dieter Lehnhardt herausgegebene Buch „Haben Sie das alles gelesen?“, das sich ausdrücklich als „Ein Buch für Leser und Sammler“ bezeichnet.

Bibliotheken von Gleichgesinnten

Schon beim ersten Hineinblättern sah ich auf den Abbildungen Regale, die meinen eigenen vom Grundcharakter her nicht unähnlich sind, gefüllt mit Büchern, oft Gesamtausgaben, unter denen ich viele erkannte, die ich selbst auch besitze. Bibliotheken von Gleichgesinnten also! Auch insofern, als die Regale ganz offensichtlich in erster Linie der optimalen Raumausnützung dienen, damit der Besitzer so viele Bücher wie möglich unterbringen kann. Bücherregale haben ja die Tendenz, ständig überzuquellen…

Essays der Bibliotheksbesitzer

Die Herausgeber des Bandes haben viele solche Bibliomanenen offenbar gefragt, wie sie Besuchern auf deren Frage „Haben Sie das alles gelesen?“ antworten würden. Herausgekommen sind kurze Essays der Bibliotheksbesitzer über Entstehung, Schwerpunktsetzung und Entwicklung ihrer Bibliotheken. Ziemlich viele der Sammler sind in der DDR groß geworden sind und haben dementsprechend interessante Dinge über erschwerten Buchkauf, Buchschmuggel oder „Bückware“ (also Bücher, die der Buchhändler unter dem Ladentisch hervorholte und nur an vertrauenswürdige Kunden verkaufte) zu erzählen.

Detektivarbeit mit Leselupe

Jede Bibliothek wird mit einem doppelseitigen Foto und mehreren kleineren Abbildungen auch visuell vorgestellt. Wegen des kleinen Buchformats ist es allerdings ratsam, eine Leselupe bereitzulegen, damit man sich als Detektiv betätigen kann: Welche Gesamtausgabe mag das wohl sein? Ist das wirklich der Buchrücken von … ?

Berühmte Bücher-Orte

Das letzte Viertel des Buches widmet sich berühmten, öffentlich zugänglichen Bücher-Orten: von Goethes Bibliothek in seinem Wohnhaus am Frauenplan in Weimar über Arno Schmidts Bibliothek in Bargfeld, Ernst Jüngers Sammlungen in Wilfingen, Thomas Manns Arbeitszimmer mit Bibliothek im Thomas-Mann-Archiv an der ETH Zürich oder Karl Mays Bücher in der Villa Shatterhand in Radebeul bis zu Balzacs Haus in der Rue Raynouard in Paris.

Kurzbiographien der Büchersammler runden den Band ab.

Haben Sie das alles gelesen? Ein Buch für Leser und Sammler. Hg. v. Klaus Walther u. Dieter Lehnhardt. Mironde-Verlag, Niederfrohna, 2014. 335 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Lesepult und Bücherregale. Tuschestift, Farbstift, 2016.

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Gatscher-Riedl: Bahnen im Süden Wiens

Wolfgang Krisai: Bahnhof Mödling. Tuschestift, Buntstift, 2015.Der Archivar der Marktgemeinde Perchtoldsdorf schrieb ein Buch über die Eisenbahnen und Straßenbahnen im Süden Wiens – einst und heute. Er behandelt darin folgende Bahnstrecken, und zwar vor allem die im Bezirk Mödling verlaufenden Teilstrecken:

Den „360er“ (Straßenbahn) von Wien-Rodaun nach Mödling;

die „Aspangbahn“ von Wien nach Wiener Neustadt;

die Lokalbahn Wien – Baden;

die Lokalbahn Mödling – Hinterbrühl;

die Kaltenleutgebner Bahn;

die Flügelbahn Mödling – Laxenburg Kaiserbahnhof;

die „Pottendorfer Linie“ von Wien nach Wiener Neustadt;

die Südbahn von Wien in Richtung Graz und Klagenfurt.

Drei davon sind verschwunden (der 360er, die Bahnen nach Laxenburg und in die Hinterbrühl) und nur noch in Resten und vereinzelten Bauwerken erkennbar. Die Kaltenleutgebener Bahn ist aufgelassen, existiert aber noch. Die restlichen Bahnen sind noch in Betrieb.

Jede der Bahnen hatte oder hat ihren eigenen Charakter und ihre eigenen Probleme.

Älteste elektrische Straßenbahn der Welt

Neu war für mich, dass die Lokalbahn in die Hinterbrühl die weltweit erste elektrische Straßenbahn im Dauerbetrieb war. Sie wurde 1883 in Betrieb genommen und zunächst mit einem sich bald als untauglich erweisenden Stromübertragungssystem ausgestattet: In über dem Schienenweg montierten dünnen Kupferrohren, die unten einen Schlitz hatten, zogen die Triebwagen an zwei Kabeln zwei „Schiffchen“ hinter sich her, die den Strom in das Fahrzeug übertrugen. Dass das störungsanfällig sein musste, ist klar. Doch auch die Umstellung auf Fahrleitungen mit Stromabnehmern hatte ihre Tücken, denn die Wagen waren ungünstig kontruiert, sodass die Stromabnehmer nach und nach die Dachkonstruktion eindellten. Das bog man aber nicht aus, sondern ließ die Delle bestehen.

Eine Bahnstrecke als Geschenk für den Kaiser

Ebenfalls bemerkenswert: Die Flügelbahn Mödling – Laxenburg war ein Geschenk des führenden Eisenbahnunternehmers Sina an Kaiser Franz Joseph, um bei diesem gut Wetter für die Eisenbahn zu machen. Da der Laxenburger Schlosspark bereits im 19. Jahrhundert zum Großteil für die Öffentlichkeit zugänglich war, und zwar gratis!, beförderte die Bahn nicht nur seine kaiserliche Hoheit, sondern auch viele Ausflügler, was sich für Sina dann auch finanziell auszahlte. Da die Züge leicht und die Strecke brettleben waren, genügten winzige Dampfloks mit der Achsfolge 1A, also einer Vorlaufachse und einer angetriebenen Achse.

Bahnhof unter entgleisten Güterwaggons begraben

Auch von Zugsunglücken wird berichtet, wobei ein Zusammenstoß zweier Züge des 360ers in Perchtoldsdorf, bei dem 30 Menschen zu Schaden kamen, eins der schwersten war. Auch ein ganzes Bahnhofsgebäude fiel einem Zugsunglück zum Opfer: der aufgelassene Bahnhof Rodaun der Kaltenleutgebener Bahn, der 1979 unter einem entgleisten Zug von Zementwaggons begraben wurde.

In kurzen Kapiteln gibt Gatscher-Riedl einen Überblick über die Entwicklung der Bahnlinien, dann folgt jeweils ein ausführlich kommentierter Bildteil mit historischen und modernen Fotos (vielfach auch von Nostalgiefahrten), die zu betrachten für einen Menschen, der die Gegend kennt, äußerst interessant ist.

Gregor Gatscher-Riedl: Bahnen im Süden Wiens. Auf Schienen durch den Bezirk Mödling. Kral-Verlag, Berndorf, 2015. 191 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Bahnhof Mödling. Tuschestift, Buntstift, 2015.

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