Archiv der Kategorie: Französische Literatur

Labé, Louise: Torheit und Liebe

Bild: Wolfgang Krisai: Lesende Frau. Kohle. 2020.

Gestern gekauft, heute schon gelesen: Louise Labé: „Torheit und Liebe“. Das ist der erste Band der Reihe „Femmes de lettres“ aus dem Secession-Verlag.

Louise Labé war mir ein Begriff, da Rilke Sonette dieser Renaissance-Dichterin übertragen hat. Es ist interessant, diese Übertragungen mit den Übersetzungen des vorliegenden Bandes zu vergleichen: Rilke überträgt sehr frei und „rilkeisch“, dennoch trifft er den Sinn der Gedichte sehr gut, die Übersetzerin des neuen Bandes, Monika Fahrenbach-Wachendorff, orientiert sich bewusst nicht an Rilke, sondern übersetzt viel wörtlicher, schafft es aber trotzdem, Verse und Reime in überzeugender Form zustande zu bringen. Beide Versionen haben also etwas für sich.

Frauen, nützt die Möglichkeiten der neuen Zeit

Der Band beginnt mit einem „Widmungsbrief“, in dem die Autorin die Frauen dazu aufruft, die Möglichkeiten der neuen Zeit dazu zu nützen, in Wissenschaft und Kunst hervorzutreten und nicht nur die Rolle der Hausfrau und Mutter zu übernehmen.

Torheit und Liebe im Streit

Das erste Werk ist dann ein Streitgespräch zwischen Folie und Amor. Allerdings geht der Text weit darüber hinaus, da nur der Anfang ein Streitgespräch zwischen den beiden genannten Kontrahenten ist, an das sich dann ein ganzes Gerichtsverfahren vor Zeus anschließt.

Der französische Originaltitel heißt „Débat de Folie et d’Amour“. Für den Franzosen ist völlig klar, dass es hier um ein Streitgespräch zwischen „Torheit“ und „Liebe bzw. Amor“ geht. Während also im Französischen „Folie“ eindeutig ist (das nicht übersetzte Wort „Folie“ im Deutschen hingegen nur dem Französischkundigen etwas sagt), ist „Amour“ mehrdeutiger als die Übersetzung „Amor“.

Das ist aber auch das Einzige, was vielleicht nicht ganz gelungen ist. Der Text selbst liest sich dann sehr flüssig und lebendig. 

Amor und Folie wollen durch die Tür in einen Festsaal eintreten, wohin sie als Gäste des Zeus geladen sind. Folie drängt sich vor, Amor stellt sie zur Rede, ja, schießt dann einen seiner Pfeile auf sie, die sich augenblicklich unsichtbar macht und sich dann an Amor rächt, indem die ihm die Augen auskratzt. Statt dass dieser sich vor Schmerzen krümmt, diskutiert er weiter mit Folie, die ihm daraufhin noch einen Verband über die Augen bindet, den man nie wieder abnehmen kann, weil es ein von den Parzen verzaubertes Band ist.

Da ruft der arme Amor Zeus an, damit ihm Gerechtigkeit widerfahre und Folie aus dem Götterhimmel verbannt werde. Auch seine Mutter Venus ist ganz auf seiner Seite.

Dann bleibt die Liebe spannend

Schließlich kommt es zum Gerichtsverfahren. Amor wird auf seinen Wunsch von Apoll verteidigt, der eine lange Rede hält, Folie lässt sich von Merkur verteidigen, der eine noch längere Rede hält. Apoll sagt: Wenn Amor seine Pfeile gezielt verschießen könne, dann werde durch die damit hergestellten Liebesbeziehungen im Endeffekt eine bessere Gesellschaft ermöglicht. Merkur hingegen plädiert für die Bedeutung der „Torheit“ in der Liebe: Liebe treffe nun einmal die ungleichsten Paare, doch gerade darin liege der Reiz, dass nicht immer alles glatt geht, sondern die Liebe spannend bleibt. Damit bewirke die „Torheit“ mehr als die noch so wohlgezielten Liebespfeile eines sehenden Amor. 

Zeus kann sich nicht entscheiden und vertagt das Urteil auf den Sankt Nimmerleinstag. Bis dahin solle Folie dazu verpflichtet sein, den blinden Amor zu führen.

Beim Lesen ist mir sehr bald aufgefallen, dass man es hier mit einem Pendant zu Erasmus von Rotterdams „Lob der Torheit“ zu tun hat, denn auch hier wird der Torheit das Wort geredet.

24 Sonnette

Nach diesem Hauptwerk der Dichterin folgen drei Elegien und 24 Sonette (jene, die Rilke einst übertragen hat). In allen diesen Gedichten geht es um die Leiden einer vor Sehnsucht fast vergehenden Liebenden, deren Geliebter in der Fremde ist und sich nicht meldet. Die Situation kann man sich sehr gut vorstellen, auch wie man halb wahnsinnig wird, wenn sich der Geliebte nicht und nicht melden will. Ist er vielleicht schon untreu? Das kann nicht sein, wo die Liebende doch so viele Gebete für ihn zu Gott geschickt hat.

Man darf, betont das Nachwort von Labé-Expertin Elisabeth Schulze-Witzenrath, nicht auf den Irrtum verfallen, das „Ich“ der Gedichte für die Autorin selbst zu halten und die Gedichte damit autobiographisch aufzufassen. Louise Labé war mit einem eher prosaischen, deutlich älteren Mann verheiratet. Sehnsüchtige Liebesgedichte aber gehörten zur Konvention der Zeit, sie sind Rollenlyrik, nicht Ausdruck eigenen Unglücks.

Louise Labé wurde als Tochter eines Seilers 1520 oder 1522 in Lyon geboren, begann schon in jungen Jahren zu schreiben, veröffentlichte ihre Werke 1555 (Datum des Widmungsbriefs) und trat bis zu ihrem Tod 1566 nicht weiter literarisch hervor.

Reihe „Femmes de lettres“

Die Idee des Secession-Verlags, eine Reihe mit Werken von „Autorinnen im Europa des 16. bis 18. Jahrhunderts“ herauszubringen, finde ich sehr gut. Es wird ja Zeit, dass die Männerlastigkeit der Literaturgeschichte zumindest ein klein wenig ausgeglichen wird. Es gibt sie nämlich sogar in der Zeit von der Renaissance bis zur Aufklärung, die schreibenden Frauen, man hat sie nur bisher totgeschwiegen.

Die Reihe ist sehr ansprechend und gediegen gestaltet: dunkelblaue Leinenbändchen mit Fadenheftung und Lesebändchen im gewohnten Secession-Format.

Labé, Louise: Torheit und Liebe. Die Werke der Louise Labé. Aus dem Mittelfranzösischen übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorff. Mit einem Nachwort von Elisabeth Schulze-Witzenrath. Secession-Verlag, Zürich, 2019. Bd. 1 der Reihe „Femmes de lettres“. 

Bild: Wolfgang Krisai: Lesende Frau. Kohle. 2020.

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Margaux Motin et Pacco: Oui! 101 questions à se poser avant de se marier

Lesende mit Katze

Hätte ich diese Frau auch geheiratet, wenn ich vorher die 101 Fragen, die man sich vor der Hochzeit stellen sollte, beantwortet hätte? Zweifellos! Immerhin beantwortete sie meine erste und wichtigste Frage, als wir uns noch kaum kannten, mit „Ja!“: „Liest du gern?“

Kann man ein Cartoon-Buch, das „101 Fragen, die man sich vor der Hochzeit stellen sollte“ behandelt, auch mit Vergnügen lesen, wenn man schon an die 30 Jahre verheiratet ist? Man kann, insbesondere dann, wenn Margaux Motin es – in diesem Fall gemeinsam mit dem Comiczeichner Pacco – illustriert hat. Denn die Cartoons sind das Dominante in den Buch, obwohl den Texten genauso viel Platz eingeräumt ist – den sie aber nie ausfüllen.

1 Seite Text, 1 Seite Bild

Auf der jeweils linken Seite steht nämlich die Frage und ein kurzer Text, der sie näher erläutert (natürlich auf lustige Weise), und dabei bleibt mindestens die Hälfte der Seite leer, während jeweils rechts der dazugehörige Cartoon die ganze Seite füllt.

Matin oder Pacco?

Margaux Motin, die ich ja schon von drei anderen Comicbüchern kenne, hält auch in diesem Buch ihr Niveau. Allerdings ist es sehr schwer, ihre Cartoons von jenen ihres Co-Illustrators Pacco zu unterscheiden. Motin zeichnet mit einem etwas feineren Strich, Pacco mit einem dickeren. Die Unterschiede sind aber minimal. Die Figuren bewegen sich unglaublich wirklichkeitsnah, haben eine mehr als überzeugende Mimik, die Accessoirs, die im Bild zu sehen sind, passen hundertprozentig – und das alles in einem vereinfachenden Cartoon-Stil, der meine Frau – die mir das Buch übrigens aus Paris mitgebracht hat – an Uli Stein erinnert. Es gibt keine Schattierungen und keine Schatten, kaum ausgeführte Hintergründe – wozu auch? Es geht auch ohne.

Junge Leute von heute

Die dargestellten Menschen sind paradigmatische junge Leute „von heute“, die Frauen alle superschlank und in Shorts oder engen Kleidern, die Männer als oft bärtige „Dudes“, beide Geschlechter nach Bedarf mit Tattoos verziert. Sofern die Gestalten nicht „handlungsbedingt“ z. B. in Sado-Maso-Outfit, Oktoberfest-Dirndl und -Lederhose, Badekleidung oder, zum Schluss, in Brautkleid und Hochzeitsanzug in Erscheinung treten.

Durchaus brauchbare Fragen

Worum dreht es sich nun aber bei den 101 Fragen, die man sich vor der Hochzeit stellen sollte? Zum Beispiel:

  • um das Vorleben des Partners („Wie lange war er Junggeselle, bevor ihr euch kennenlerntet?“),
  • ist der Partner für eine Beziehung geeignet, auch wenn diese nicht immer paradiesisch ist („Akzeptiert er auch deine schlechten Seiten?“ / „Akzeptiert sie deine seltenen Momente von Schwäche?“),
  • um Alltagsfragen („Wie wirst du euer Geld sparen?“ (Sie hält ihm die Augen zu, als sie im Kaufhaus an der Apple-Abteilung vorbeigehen)), usw.

Im Grunde werden Fragen vorgeschlagen, die man sich wirklich vor einer Heirat stellen sollte.

Durchaus witzige Bilder

Der Witz des Buches besteht darin, dass die Bilder immer überraschende, zum Teil groteske Situationen zeigen, wo sich die jeweiligen Fragen stellen könnten.

Ein Beispiel: „Comment aimez-vous recevoir vos invités pour un moment convival et chaleureux?“ („Auf welche Weise wollen Sie gern Ihre Gäste zu einem warmherzigen und familiären Treffen empfangen?“). Sicher nicht gut, wenn man da allzu differierende Vorstellungen hat. Und das Bild? Zeigt einen Schwung lockere Freunde bei einer gemütlichen Gartenparty – alle nackt.

Noch ein Beispiel: „Qu’est-ce que vos amies pensent de lui?“ („Was halten Ihre Freundinnen von ihm?“) Bild: „Sie“ und ihr Freund „Ryan“ beim Sackhüpfen, Ryan führt und wird von ihren Freundinnen auch noch angefeuert. Das freut „sie“ denn doch weniger: „Non mais vous êtes SÉRIEUSES, bande de CONNASSES?!?“

Also: beste Unterhaltung über partnerschaftliche Fragen. Und für Spezialisten bietet der Band Seite für Seite Anlass zu Detektivarbeit: Motin oder Pacco?

Margaux Motin & Pacco: Oui! 101 questions à se poser avant de se marier. Èditions Delcourt, 2015. Ca. 200 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Lesende mit Katze.Tuschestift, Buntstift. 2015.

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Michel Houellebecq: Unterwerfung

Wolfgang Krisai: Touristin vor der Kathedrale von Cahors, 2014. Buntstift.Früher schrieb man der Literatur gerne prophetische Kräfte zu. Autoren hätten in manchen Werken geradezu die Zukunft vorausgesehen. Wenn Autoren allerdings bewusst Zukunftsszenarien entwarfen, lagen sie auch oft ganz daneben. Das lässt hoffen, wenn man den neuesten Roman von Michel Houellebecq liest.

Prophetisches Zukunftsszenario: 2022

Dieser bietet nämlich ein solches prophetisches Zukunftsszenario: 2022 stehen in Frankreich Präsidentschaftswahlen an, und ein Muslim gewinnt. Hinter ihm steht eine Koalition aus der dominierenden Muslimbruderschaft und einigen Linksparteien, die sich willig dem islamischen Diktat unterwerfen. Die Koalition kam nur zustande, um einen Sieg des „Front National“ zu verhindern. Das ist gelungen. Und zwar nachhaltiger, als man dachte. Denn mit der gesellschaftlichen Umwälzung, die die Machtübernahme durch die Muslimbrüder bewirkt, verschwindet der „Front National“ ganz von der Bildfläche. Es ist von ihr einfach nicht mehr die Rede. Zumindest im Roman.

Auferstehung des Römischen Weltreichs

Diese Umwälzung gelingt so leicht, weil der islamische Präsident Ben Abbes eine verführerische Zukunftsvision hat: Er will unter islamischen Vorzeichen das antike Römische Weltreich wieder auferstehen lassen, indem sämtliche Mittelmeer-Anrainerstaaten der EU beitreten, deren Hauptstadt Rom und deren Parlamentssitz Athen werden sollen. Nach der Reihe sollen die europäischen Staaten dem französischen Beispiel folgen und islamisch werden. Nach Frankreich ist der erste Staat, der einknickt, Belgien. Einfache Erklärung dafür: Die dortigen nationalistischen Parteien sind in Wallonen und Flamen gespalten, während die Muslime Belgiens landesweit geeint sind und damit stimmenstärkste Partei werden.

Auch für die Gesellschaft hat Ben Abbes klare Visionen: Die Familie – patriarchisch geführt, mit Polygamie – soll die tragende Struktur der Gesellschaft werden, daher wird sie gefördert, wohingegen sozialstaatliche Einrichtungen radikal zusammengestrichen werden. Der gesamte Bildungsbereich wird mit einem Schlag islamisiert, denn in dessen Institutionen werden die Bürger der Zukunft auf die islamischen Werte hingetrimmt. Nicht-islamische Schulen und Universitäten werden in Zukunft nur noch ein Schattendasein führen.

Die Franzosen machen bei dieser Islamisierung ihres Landes willig mit, da ihr Laizismus schal, die katholische Kirche eine schwachbrüstige Randgruppe geworden ist, daher erliegen sie der Faszination der Macht. Zumal vor allem der konservative Flügel in der Gesellschaft viele Gemeinsamkeiten mit der neuen Ideologie hat: Patriarchat, Betonung der Familie, strenge Regeln in den Schulen, Ent-Sexualisierung der Öffentlichkeit (sichtbares Zeichen: die heute allgegenwärtigen Damen-Shorts und kurzen Röcke verschwinden schlagartig), usw.

Eine Nation von willigen Mitläufern

Das ist das Beunruhigende an Houellebecqs Zukunftsvision: Die Franzosen werden in null Komma nichts zu Mitläufern, ja Vertretern der neuen Macht. Die – titelgebende – „Unterwerfung“ der Bürger unter den Islam gelingt umso leichter, als die Muslime nicht mit Gewalt, sondern mit Verführungskraft vorgehen. Houellebecq stellt zwei Verführungen in den Mittelpunkt: die durch das Geld und durch die Vielweiberei.

Sympathischer jämmerlicher Anti-Held

Damit sind wir beim „Helden“ des Romans, dem Literaturdozenten François, der an der Pariser Sorbonne III französische Literatur lehrt und ein ausgewiesener Huysmans-Spezialist ist. Er ist ein halb sympathischer, halb jämmerlicher Anti-Held und der Ich-Erzähler des Romans.

Er gibt uns Einblick in seine Begeisterung für Joris Karl Huysmans (den zu lesen man richtig Lust bekommt), er betrachtet seine Umwelt und seine KollegInnenschaft mit pointiertem, daher sehr unterhaltsamem Zynismus (Universitäten sind offenbar überall der gleiche Intrigenstadel) und er schildert sein unerfreuliches Liebesleben mit spätestens jährlich wechselnden Studentinnen ganz ungeschminkt (also gibt es ein paar eher unappetitliche erotische Stellen im Buch). Weltanschaulich ist er einem wenig gefestigten Atheismus zuzuordnen, also ein Vertreter der Mehrheit der westlichen Bevölkerung (auch wenn er de jure wohl Katholik ist).

Als sich der Wahlsieg der Muslimbrüder abzeichnet, fährt er zur Vorsicht aufs Land, in den Südwesten, und landet eher zufällig in dem kleinen Ort Martel. Dort wohnt zufällig auch eine seiner Universitäts-Vorgesetzten und ihr Mann, ein sehr mitteilsamer ehemaliger Geheimdienst-Mitarbeiter, der François die Augen für das öffnet, was politisch gerade geschieht.

Alles verändert

Als die Wahlen vorbei sind und der befürchtete Bürgerkrieg nicht ausbricht, kehrt François nach Paris zurück. Dort ist aber alles irgendwie verändert. Vor allem die Uni ist vorläufig geschlossen. Nach wenigen Wochen erhält er einen Brief, dass er entlassen sei. Er wird mit einer großzügigen Pension abgefunden und nimmt dieses Angebot anstandslos an. Die Sorbonne wird als Islamische Universität Paris Sorbonne wieder eröffnet. Saudi-Arabien ist nun der Hauptsponsor, alle Angestellten und Lehrer (Frauen sind selbstverständlich nicht mehr darunter) müssen Muslime sein und die Lehre hat sich islamischen Gesetzen zu unterwerfen.

Robert Rediger – ein „Umgestalter“

François hängt nun in der Luft, und es dauert einige Zeit, bis er durch das Angebot, eine Huysmans-Ausgabe der „Pléiade“ herauszugeben, wieder eine vernünftige Arbeit bekommt. Zugleich werden Verbindungen zum neuen Rektor der Sorbonne, Robert Rediger, hergestellt. Dieser hat schon früh begriffen, dass der Islam die Zukunft ist, und sich bekehrt. Ganz im Sinne der neuen Machthaber leitet er die Umgestaltung der Sorbonne. (Vielleicht hat er sogar einen sprechenden Namen: „Redigieren“ ist ja ein „Umgestalten“.)

Er lädt François in sein Privat-Palais ein, wo dieser über Redigers Frauen staunt, vom Gastgeber einen gewinnenden Vortrag über die positiven Seiten des Islam hört und von guten Weinen illuminiert (dass Alkohol im Islam verboten sei, muss ein Gerücht gewesen sein) nach Hause entlassen wird. Nicht ohne einen Traktat über den Islam im Gepäck.

Bei einer bald darauf stattfindenden akademischen Feier betritt François seine ehemalige Wirkungsstätte wieder, mit wehmütigem Gefühl, und im Gespräch macht ihm Rediger (der inzwischen Staatssekretär für Bildungsfragen geworden ist) klar, dass eine Konversion zum Islam für ihn handfeste Vorteile hätte: Sein neues Gehalt wäre dreimal so hoch wie die ohnehin schon stattliche Pension; und die Polygamie – von kundigen Heiratsvermittlerinnen in die Wege geleitet, da man die verschleierten Pariserinnen ja nicht mehr selbst in Augenschein nehmen könne – würde sein marodes Liebesleben in erfüllende Bahnen lenken.

Konversion im Konjunktiv

„Das brachte einen natürlich zum Nachdenken“ (S. 264), ja es „eröffnete [ihm] gleichsam neue Horizonte“ (S. 266), und folgerichtig schließt der Roman mit einem Kapitel, in dem François – im Konjunktiv, wohlgemerkt, das ermöglicht noch ein Fünkchen Hoffnung – seine Konversion zum Islam und seinen Wiedereintritt ins akademische Leben der Sorbonne imaginiert.

Ein erstaunliches Buch

Ein erstaunliches Buch. Ich verschlang es und erlebte keine Sekunde Langeweile. Vermutlich hätte ich es nie gelesen, wenn nicht die Tragödie mit „Charlie Hebdo“ geschehen wäre. Eine wirksamere Werbung für sein Buch hätte Houellebecq sich nicht erträumen können. In Wien stapeln sich die Exemplare meterhoch in den großen Buchhandlungen und noch die kleinsten haben einige Exemplare vorrätig.

Für das ganze Buch kann man obiges Zitat in Anspruch nehmen: „Das brachte einen natürlich zum Nachdenken.“ Houellebecq hält sich selbst nobel zurück und überlässt es tatsächlich der Leserin bzw. dem Leser, seine Schlüsse zu ziehen. Er hat kein anti-islamisches Pamphlet geschrieben, sondern den Islam als starke und damit attraktive „Weltanschauung“ geschildert.

Michel Houellebecq: Unterwerfung. DuMont Buchverlag Köln, 3. Aufl. 2015. 270 Seiten. Frz. Originaltitel: Soumission. Paris 2015.

Bild: Wolfgang Krisai: Touristin vor der Kathedrale von Cahors, 2014. Buntstift. – 2022 gäbe es keine Touristinnen in Shorts mehr, die einem Zeichner ins Bild laufen könnten, um zu fotografieren, wie mir das im vergangenen Sommer passiert ist…

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Tatiana de Rosnay: Das Geheimnis der Wände

Wolfgang Krisai: junge Frau. Buntstift, 2010.Meine Frau schenkte mir zu Weihnachten diesen kurzen Roman von Tatiana de Rosnay, damit ich endlich einmal weiß, wie diese so schreibt. Der Roman stammt aus ihrer „Frühperiode“, wo sie noch viel düsterere Themen behandelte als jetzt, wo mit der Popularität auch hellere Töne in ihr Werk gekommen sind.

Die einfache, aber wirksame Grundidee dieses Buchs: Eine Frau reagiert übersensibel auf die „Geschichte“ von Häusern, die dieses sozusagen in ihre Wände aufgesogen haben, daher der Titel.

Alles beginnt ganz harmlos

Die Sache beginnt, als Pascaline, die Ich-Erzählerin, nach der Trennung von ihrem Mann eine kleine Pariser Wohnung mietet. Als sie mit ihrer Freundin und Arbeitskollegin Élizabeth – beide arbeiten in einem IT-Unternehmen als Programmiererinnen, sind also alles andere als verträumte Gestalten – in der Wohnung Möbel zusammenbaut. Plötzlich wird ihr übel. Und in der Nacht kann sie nicht recht schlafen.

Sie kann es nicht wegstecken

Einige Tage später erfährt sie, dass in ihrer Wohnung ein Mord geschehen ist: der erste von sieben brutalen Frauenmorden, die vor einigen Jahren Paris in Atem gehalten haben. Der Täter wurde gefasst und sitzt jetzt im Gefängnis.

Manch anderer würde das vielleicht wegstecken, nicht aber Pascaline. Die hält es in dieser Wohnng nicht mehr aus, weil sie ständig an die vergewaltigte und ans Bett gefesselte Anne mit der durchgeschnittenen Kehle und dem vielen Blut überall denken muss. Und an deren Mutter, die die Tote fand.

Auf den Spuren des Mörders

Sie zieht gleich wieder aus, zunächst in ein Hotel, später in eine andere kleine Wohnung. Dennoch nagt die Sache mit dem Serienmörder an ihr. Sie recherchiert im Internet alles über die Morde und den Mörder, sucht die anderen Häuser, wo die sechs weiteren Morde geschehen sind, auf und wandert immer wieder rund um das Gefängnis, wo der Mörder einsitzt.

In der Arbeit beginnt sie grobe Fehler zu machen, sodass sie der Chef hinauswerfen will. Sie kann das mit dem Märchen abwenden, dass gerade ihre 15jährige Tochter gestorben sei. Der Chef lässt sich erweichen und schickt sie nur 14 Tage in den Krankenstand.

Katastrophales Rendezvous

Zuvor noch hat die rührend um sie bemühte Élizabeth ein Abendessen mit Robert, ihrem geschiedenen Schwager, arrangiert, das wie gewünscht dazu führt, dass Robert sich für Pascaline interessiert. Einige Tage später kommt es zu einem Rendezvous, Robert begleitet Pascaline nach Hause, sie lässt ihn ein, schon sind sie im Bett, doch als der wenig sensible Robert auf Pascaline herumzuackern beginnt, fällt dieser plötzlich ein, dass es den sieben ermordeten Mädchen wohl kaum anders ergangen ist. Panisch würgt sie Robert, der die Flucht ergreift.

Pascalines Ex-Mann Frédéric ist inzwischen neu liiert mit einer jungen Frau, die bereits ein Kind erwartet. Das verträgt Pascaline gar nicht. Sie selbst hatte einst mit ihm eine Tochter, Helena, die mit einem halben Jahr starb. Plötzlicher Kindstod. Der im Nachbarzimmer fernsehende Frédéric hatte nichts gemerkt. Oder hatte er nichts merken wollen? Immer mehr steigert sich Pascaline in einen Hass gegen ihren glücklichen Ex-Mann hinein.

Hilfsversuche scheitern

Eines Tages, mitten im Krankenstand, taucht Élizabeth bei Pascaline auf, nötigt sie zu einem Gespräch, das in Geschrei ausartet. Pascaline ist keinem Versuch, ihr zu helfen, zugänglich. Sogar Robert wäre bereit, mit ihr über den peinlichen Abend zu reden, wenn ihr das helfen würde. Doch nein.

Schließlich aber fasst Pascaline einen Entschluss, ruft Élizabeth an, sie solle sie zu Frédéric bringen, mit dem sie Helenas Tod besprechen müsse, dann werde es ihr besser gehen. Sie fahren hin, Pascaline sagt, es werde nicht lange dauern, geht durch den Vorgarten zu Haus, läutet an, greift nach etwas in ihrer Tasche, Frédéric öffnet –––

Ende.

Eine neue Daphne Du Maurier

Der Roman erinnert an Werke von Daphne Du Maurier, denn genauso unheimlich und besessen wie deren Figuren ist auch Pascaline. Aus dem Alltäglichen entwickelt sich unvermutet das Grauen.

Geschrieben ist das alles in lockerem Erzählton, unangestrengt, bequem lesbar. Auch das wohl ein bewusst kalkulierter Kontrast zu dem, was sich da langsam entwickelt.

Tatiana de Rosnay: Das Geheimnis der Wände. Roman. Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin, 2009. 141 Seiten. – Französisches Original: La Mémoire des murs, Paris 2008.

Bild: Wolfgang Krisai: Junge Frau. Buntstift, 2010.

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Montaigne: Tagebuch der Reise nach Italien

Wolfgang Krisai: Der Turm Montaignes auf Schloss St. Michel de Montaigne. Farbstift und Tuschestift. 2014.Ich hatte einen Klassenkollegen, der regelmäßig wegen Nierenkoliken ausfiel. Er war kaum die Hälfte der Schultage in der Schule, so sehr setzte ihm die Krankheit zu. Nun habe ich ein Buch eines Leidensgenossen dieses Mitschülers gelesen: das Reisetagebuch von Michel de Montaigne (1533 – 1592) aus den Jahren 1580 und 1581. Wenn jemand ständig von Nierenkoliken, abgehenden Nierensteinen und Nierensand, dazu noch von Migräne und Zahnschmerzen heimgesucht wird, darf man sich nicht wundern, dass er in seinem Tagebuch darüber schreibt. Erstaunlich ist es vielmehr, wenn dieser Geplagte trotzdem noch andere Dinge wahrnimmt, wie Montaigne es tut.

Der Hauptzweck seiner Reise scheint jedenfalls medizinischer Natur gewesen zu sein: so viele Heilbäder wie möglich aufzusuchen und auszuprobieren, in der Hoffnung, dass sie seine Krankheit lindern. Ob er auf völlige Heilung gehofft hat, geht aus dem Buch nicht hervor. Von den Ärzten, deren einige er unterwegs konsultiert, scheint er jedenfalls wenig erwartet zu haben.

Protokoll einer Krankheit

Man glaubt jedenfalls kaum, wie viele Kurorte mit Heilquellen Montaigne auf seinem Weg aufspürt und welche Mengen an Heilwasser er dort trinkt und wieder ausscheidet. Wie gut ihm diese oder jene Therapiemethode tut, wie gut oder schlecht er schläft, was er isst und was lieber nicht, all das (und einiges Unappetitlichere) wird minutiös beobachtet und notiert.

1580 Aufbruch

Montaigne bricht 1580 zu seiner Reise auf, nachdem er die Erstausgabe seiner Essais dem französischen König überreicht hat. Natürlich reist er nicht allein, sondern in Gesellschaft einiger junger Adeliger, die im Tagebuch aber eine recht untergeordnete Rolle spielen. Seine Route führt ihn von Beaumont-sur-Oise bei Paris über Châlons-sur-Marne nach Basel, von dort über Baden, Schaffhausen, Konstanz und Lindau nach Augsburg.

Offen für alles Ungewöhnliche

Noch in Frankreich lernt er interessante Fälle von Transgender-Menschen kennen: Einerseits erfährt er von einer Marie, die sich als Mann verkleidete, eine Frau heiratet, aber kurz darauf verraten und gehenkt wurde. Ich vermute, es handelte sich hier um eine lesbische Frau, die auf diesem Weg ihre sexuelle Orientierung ausleben wollte. Kurz darauf berichtet er über eine weitere Marie, jene „mit dem Bart“, bei der, als sie noch ein Mädchen war, bei einem heftigen Sprung plötzlich männliche Geschlechtsteile hervortraten. Der zuständige Bischof taufte sie um auf Germain (S. 31f).

An diesen Beispielen erkennt man, dass Montaigne auf seiner Reise offene Augen und Ohren für alles „Interessante“ und Ungewöhnliche hat. Für eine ungewöhnliche Sehenswürdigkeit oder ein Treffen mit einem ungewöhnlichen Menschen macht er gelegentlich auch einen Umweg, andererseits lässt er wichtige Orte links liegen, wenn er stattdessen schneller in einen neuen Badeort gelangt.

Wunderwerk der Festungstechnik

In Augsburg schildert er minutiös den damals legendären „Augsburger Einlass“, eine mit komplizierter Mechanik betriebene Abfolge von Stadttoren, durch die man in der Nacht in die Stadt gelangen konnte, ohne direkt mit einem Pförtner oder Torwächter in Berührung zu kommen. Aber nur, wenn man in einem der Zwischengelasse seinen Obulus in der richtigen Höhe in eine Schale geworfen hatte, die der Wächter sogleich hochzog. War es zu wenig Geld, blieb der Einlass Heischende eben bis zum Morgengrauen innerhalb des „Einlasses“ gefangen… (S. 97-99).

Montaigne vermerkt auch jeden Tag, wie viele Meilen er zurückgelegt hat. In den Anmerkungen ist aufgelistet, wie lange eine Meile in welcher Gegend war. Das konnte von 4 km bei Paris bis zu 8,35 km in der Schweiz differieren.

Erste Hälfte vom Sekretär verfasst

Die erste Hälfte der Reise notiert übrigens nicht Montaigne persönlich, sondern ein Sekretär, dem dieser den Tagesablauf erzählt hat. Der Sekretär schreibt also offenbar nicht oder nicht immer genau nach Diktat, sondern fasst in eigenen Worten zusammen, was sein Herr im erzählt. Er war ja nicht immer dabei, wenn Montaigne z. B. bei einem örtlichen Adeligen zu Gast war.

Diese Schreibsituation führt allerdings stellenweise zu Unklarheiten, wer hier das „Ich“ des Textes sei. Montaigne? Der Sekretär?

Am liebsten zu Pferd

Von Augsburg geht es über München nach Innsbruck, wo der habsburgische Herzog ihn nicht vorlässt, weil er gerade nicht gut auf die Franzosen zu sprechen ist (wegen einer ganz und gar unpolitischen Affäre: die französische Post wollte für einen auf dem Postweg abhanden gekommenen Edelstein des Herzogs keinen Schadenersatz zahlen).

Weiter über Südtirol, Trient nach Verona, Vicenza und Venedig. Auch wenn er erst auf der Rückreise diese Stadt genauer kennenlernen will, kann Montaigne sich nicht beherrschen, besucht Venedig und reitet dann wieder zurück nach Padua – obwohl er höchst ungern einen Weg zweimal zurücklegt. Sein Glück, denn die Rückreise läuft ganz anders ab als geplant und er kommt nie wieder nach Venedig.

Montaigne ist am liebsten zu Pferd unterwegs, denn das tut seinem Leiden gut. Außerdem wird ihm in Sänften, Kutschen oder Schiffen regelmäßig schlecht.

Bücher beschlagnahmt

Über Ferrara, Bologna und Florenz gelangt er schließlich zum südlichsten Punkt seiner Reise, nach Rom. Hier beanstandet er, dass er übergenau gefilzt wird. Insbesondere seine mitgeführten Bücher, auch seine eigenen Essais, werden zur Kontrolle vorläufig beschlagnahmt. Wochen später erhält er sie zurück, wobei beanstandet wird, dass er Bücher mit ketzerischen Inhalten mitführe: nämlich solche, in denen zum Zweck der Widerlegung die Lehren der Protestanten zitiert werden. Auch seine Essais findet die Behörde nicht ganz astrein, und es wird ihm empfohlen, in späteren Auflagen die beanstandeten Stellen zu ändern.

Vor allem in Deutschland und der Schweiz hatte sich Montaigne immer ausführlich über die konfessionellen Verhältnisse informiert. Kein Wunder in Zeiten, wo es eine der wesentlichsten Fragen war, ob man Katholik, Lutheraner, Zwinglianer oder Calvinist war. Wie so oft stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, dass die meisten Leute überhaupt ihre eigene Mixtur aus Lehren der verschiedenen Konfessionen glauben und man vielerorts ganz gut und friedlich damit leben kann. (In Montaignes Heimat leider nicht.)

Beim Papst in Rom

In Rom dominiert logischer Weise der Katholizismus. Montaigne, selbst praktizierender Katholik, besucht zu Weihnachten die Papstmesse im Petersdom und ist überrascht, wie ungeniert sich während der heiligen Handlung die konzelebrierenden Kardinäle über ganz weltliche Dinge unterhalten. Auch eine Audienz beim Papst wird ihm gewährt, und er schildert das umständliche Zeremoniell samt Fußkuss mit sanfter Ironie. Immerhin: der 80jährige Papst ist wesentlich gesünder als der viel jüngere Montaigne! (S. 170-174)

Zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt

In Rom kommt Montaigne sein Sekretär abhanden (hat er ihn entlassen? ist er ihm durchgegangen?) – also schreibt er den Rest des Tagebuchs (ungefähr die Hälfte) selbst, zunächst auf Italienisch, in Frankreich dann wieder auf Französisch. Ab diesem Zeitpunkt werden die gesundheitlichen Aspekte viel dominanter, kein Wunder.

In der Nähe von Lucca nimmt Montaigne überhaupt einen längeren Bade-Aufenthalt, wohnt privat (genaue finanzielle Überlegungen spielen immer wieder eine wichtige Rolle), gibt einmal sogar eine Art „Ball“ für alle, die kommen wollen.

Ein bisschen geht es noch kreuz und Quer durch Italien, dann ereilt Montaigne die Nachricht, er sei in absentia zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt worden (eine Funktion, die auch schon sein Vater bekleidete). Das freut ihn nicht besonders, und er macht sich gleich in die Gegenrichtung, zu einem zweiten Aufenthalt in Rom, auf den Weg. Aber das hilft nichts: Als ihn der französische König persönlich nach Bordeaux befiehlt, muss er folgen. Ein kurzer zweiter Badeaufenthalt in Lucca noch, und dann ab nach Hause. Allmählich interessiert ihn nur noch das schnelle Vorankommen, da nimmt er sogar eine Sänfte in Kauf, die ihn über den Pass nach Mont Cenis bringt.

„Donnerstag, am Tag des Sankt Andreas und letzten Tag des November kehrte ich schließlich zur Nacht nach Montaigne heim, sieben Meilen: von wo ich an zweiundzwanzigsten Juni 1580 aufgebrochen war, um nach La Fère zu gehn. So hat meine Reise siebzehn Monate und acht Tage gedauert.“ Das sind die letzten Worte des Reisetagebuchs (S. 375).

Editions-Krimi

Während Montaigne seine Essais selbst zum Druck befördert hatte, verstaute er sein Reisetagebuch tief unten in einer Truhe. Dort ruhte es unbeachtet bis 178 Jahre nach seinem Tod. Als es 1770 von Abbé Joseph Prunis aufgestöbert wurde, begann ein regelrechter Editions-Krimi, den der Übersetzer Hans Stilett im Vorwort beschreibt. Der Abbé wird nämlich just von jenen Experten der königlichen Bibliothek, die die Authentizität des Tagebuchs bestätigten, ausgebootet, und ein anderer Herausgeber bringt das Buch 1774 an die Öffentlichkeit. Diese – insbesondere die Aufklärer – ist enttäuscht: Der liberale Selbstdenker der „Essais“ entpuppt sich als braver Katholik, der jeden Sonntag in die Messe geht, und als wunderlicher Selbstbeobachter, der ständig von seinen Nierensteinen schreibt.

Das Original und die Transkription von Joseph Prunis gehen verloren. Immerhin gibt es schon 1777-79 die erste deutsche Übersetzung. Goethe ist vom französischen Original begeistert: Es bereitete ihm „an manchen Stellen noch mehr Vergnügen als seine Essais“.

1908 bringt Otto Flake eine – fehlerhafte – Übersetzung heraus, die als Insel-Taschenbuch bis heute lieferbar ist. Hans Stilett übersetzte nun alles neu und unter Berücksichtigung neuer Erkenntnisse, sodass man mit dem schönen Band der „Anderen Bibliothek“ eine verlässliche Ausgabe in Händen hat.

Michel de Montaigne: Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581. Übersetzt und mit einem Essay versehen von Hans Stilett. Die Andere Bibliothek, Berlin, 2014. 492 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Der Turm Montaignes auf Schloss St. Michel de Montaigne. Farbstift und Tuschestift. 2014. – In diesem Turm hatte Montaigne sein Refugium mit Kapelle, Wohnzimmer, Schreibkammer und Bibliothek. Der kleine Ort mit Montaignes Geburts- und Wohnschloss liegt rund 30 km östlich von Bordeaux.

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Margaux Motin: La tectonique des plaques

Junge, urbane, moderne Frauen gibt's nicht nur bei Margaux Motin, sondern auch bei Starbuck's in Wien. Skizze von 2012.

Junge, urbane, moderne Frauen gibt’s nicht nur bei Margaux Motin, sondern auch bei Starbuck’s in Wien. Skizze von 2012.

Als wir auf unserer letzten Frankreichreise vergangenen Sommer in Forbach bei Saarbrücken eine Mittagspause einlegten, gerieten wir in eine gute Buchhandlung, wo mir ein Comic-Buch wegen seines Covers ins Auge stach: Auf weißem Grund schwebt eine fast nackte junge Frau, die sich ganz begeistert den Körper bemalt, sodass sie über und über tätowiert erscheint. Die Autorin und Zeichnerin: Margaux Motin. Den Namen kannte ich doch? Tatsächlich, ich habe von ihr „Ich wäre so gerne Ethnologin…“ (siehe Eintrag vom 12. 12. 12). Schon dieses Comic hatte mir sehr gefallen, also musste das neue ebenfalls gekauft werden.

Und es hat mich nicht enttäuscht.

Das Buch ist eine ideale Nachtkästchenlektüre, denn es besteht aus vielen kurzen „Storys“, die ein bis zehn Seiten lang sind (die kurzen überwiegen bei weitem). Die Geschichten erzählen vom Alltag einer vierunddreißigjährigen alleinerziehenden Mutter einer kleinen Tochter. Einige Hinweise machen klar, dass es sich um Margaux Motin selbst handelt. (Wie weit diese Geschichten autobiographisch sind, kann ich aber nicht beurteilen.) Es gibt auch einen Liebhaber, der im Leben der jungen Frau allerdings eine noch untergeordnetere Rolle als das Töchterlein spielt. In erster Linie geht’s nämlich um die Befindlichkeit der Hauptperson, die sozusagen eine exemplarische Vertreterin der jungen, urbanen, modernen Frau ist: hin und her gerissen zwischen Gefühlen, Ansprüchen, Sehnsüchten, Problemen, Wünschen, Verpflichtungen, Lüsten und Plagen.

Sie sieht prototypisch aus:

Ihre schlanke Figur steckt, wenn überhaupt, entweder in hautengen Jeans oder in Shorts (jenem Modewunder, das sich jetzt schon sechs Jahre unverminderter Popularität erfreut), dazu in irgendeinem schlappen Oberteil, das halb von der Schulter hängt. Lange Haare, in verschiedenster Weise zusammengebündelt oder zerstrubelt. Sportschuhe oder High Heels.

Sie spricht prototypisch:

den Slang der jungen, urbanen… (siehe oben). Da ich das französische Original las (deutsche Übersetzung gibt es vorläufig noch keine, aber vielleicht arbeitet der Carlsen-Verlag schon daran), hatte ich Gelegenheit, eine Fülle neuer Schimpfwörter kennenzulernen, deren Sinn manchmal nicht einmal meine im modernen Alltagsfranzösisch äußerst beschlagene Frau entschlüsseln konnte. Der Großteil aber war verständlich und sorgte für Heiterkeit, weil diese Sprache ungemein treffend ist. Ständig hat man das Gefühl: Ja, genau so sagt so jemand das!

Sie denkt und fühlt prototypisch:

Immer auf der Suche nach dem – momentanen – Glück, versucht sie ihre disparaten Lebensbereiche unter einen Hut zu bekommen. Man ist zwar eine halbwegs fürsorgliche Mutter, wäre aber gerne ein attraktiver Single (deshalb kauft man – fast – ein T-Shirt für die Tochter, mit der Aufschrift „If you think I’m a Bitch, wait until you meet my mother“). Der Jugendlichkeitswahn der Mutter kommt manchmal sogar der Tochter bedenklich vor: „Mama … ? Muss ich dir wirklich ähnlich sein, wenn ich groß bin, oder kann ich dann auch normal sein?“ (So die Tochter, als sie der Mutter beim Zumba zusieht.)

Man sollte zwar arbeiten (die Heldin ist ja Comiczeichnerin und arbeitet zu Hause am Mac), hätte aber lieber Freizeit (weshalb man sich um 9 zur Arbeit an den Computer setzt, feststellt, dass es schon 9.01 ist, eine Zeit, zu der man nicht zu arbeiten beginnen kann, weshalb man den Arbeitsbeginn auf 10 verschiebt). Überhaupt diese Heimarbeit, die verfolgt einen bis aufs stille Örtchen (weil man ja sein iPhone immer griffbereit hat).

Die Männer, konkret: dein Freund, erweisen sich auch nicht immer als der Traumtyp. (Was zum Beispiel liest er in einem deiner ausrangierten „Glamour“-Hefte? Einen Bericht über eine junge Hure. Deine Reaktion: „Putain! Tu respectes vraiment rien! Mer-deuh!!“ Und er, nachdem du ihm einen Vortrag über die Würde der Frau gehalten hast: „Was regst du dich so auf?? Du hast wohl deine Tage, oder?“) Oft sind es auch Lächerlichkeiten, die einen schönen Abend vereiteln (da ist ein fantastisches Vorspiel in Gang gekommen, und als es konkret wird, verheddert man sich so sehr in den engen Klamotten, dass nicht einmal ER sie einem vom Leib reißen kann).

Natürlich ist man permanent online. iMac, MacBook, iPad und iPhone sind daher allgegenwärtig. Töchterlein wird zum Beispiel in der Schule gefragt, was die Mama so macht, und sagt: „Meine Mama zeichnet suuperschöne Zeichnungen…“ – „Und weiter?“ – „Außerdem ist sie auf Facebook. Und sonst trinkt sie Wein.“ (Peinlich, peinlich. Manchmal, denkt unsere Heldin, wäre es besser, wenn sie ihr kleines Maul halten würde.)

Auch Freundinnen hat man (à la „Desperate Housewives“ – diese Serie kommt tatsächlich vor), die gelegentlich getröstet werden wollen, wenn ihre Beziehungsprobleme überhand nehmen. Und umgekehrt („Ha bah voilà! Er hat mich bei Skype und Facebook geblockt! Jetzt kann ich ihm nicht einmal mehr nachspionieren. Super!“). Aber auch aus der tiefsten Krise kommt man irgendwann mal wieder heraus. Zum Beispiel, indem man das dämliche T-Shirt, das er einem geschenkt hat, endlich beseitigt und ein neues, rein weißes anzieht, ans Fenster tritt, sich mit der Freundin hinauslehnt und sagt: „Weißt du, was ich heute am liebsten täte? – – Leben.“ (Das unter dem Stichwort „Resilienz“. Man sieht, Margaux Motin katapultiert uns ganz an die Spitze des aktuellen Sprachgebrauchs.)

Ein neues Ich wäre schön

Wenn man 34 ist, hätte man schon gelegentlich gern ein neues Ich. Etwa, wenn man in der Umkleidekabine beim Bikini-Anprobieren die Panik vor diesem weißen Gespenst im Spiegel bekommt: „Ich muss mir meinen Körper amputieren lassen!! Jedenfalls müssen diese kalten Neonleuchten in den Kabinen augenblicklich verboten werden.“ Daher also: Fitness (auch wenn man nach zweieinhalb Minuten halbtot vom Hometrainer kippt). Und: Gelassenheit (auch wenn die Kaffeemaschine ewig braucht, man beim Telefonieren in der Warteschleife landet, am Bildschirm das berüchtigte „Windradl“ sich nicht zu drehen aufhört: dennoch: „Namasté.“).

Man beschließt außerdem, es mit östlichen Heilslehren zu versuchen, und begibt sich in die Hände einer kundigen Asiatin. Hier nun erfährt die Leserin bzw. der Leser endlich, was es mit dem seltsamen Buchtitel auf sich hat: Die Asiatin befragt Margaux, wo sie der Schuh drückt. Hier… Aha. Und da… Kein Wunder. Körperteil für Körperteil wird durchgegangen – und während des Gesprächs „erblüht“ er voller schöner bunter „Tattoos“ (wie auf dem Titelbild), dabei fühlt Margaux sich immer seltsamer, als würde sich in ihrem Inneren alles bewegen. Zen-Trainerin: „Jaaa, jaaa, das sind die inneren Kontinente, die sich verändern!“ Margaux: „So, als würde sich die innere Landkarte verändern? Wie bei der Plattentektonik?“ – „Exakt. Wie bei der Plattentektonik.“

Stil

Wie ist das Ganze gezeichnet? In einem ganz unaufgeregten, klaren Stil, mit perfekter „Körperbeherrschung“, ein bisschen mangahaft riesigen Augen, hundertprozentig getroffener Mimik und sparsamem, aber genau passendem Einsatz von Farbe. Motin verzichtet auf die Umrahmung der einzelnen „Kader“, sodass sich die ProtagonistInnen im weißen Raum bewegen, manchmal mit sparsam angedeuteten Gegenständen oder Möbeln. Oder einfach nur mit einem dezenten Farbfleck als Stimmungssignal. Eine Meisterin ihres Fachs. Wer Beispiele sehen will, sei auf den Blog der Künstlerin verwiesen.

Margaux Motin: La tectonique des plaques. Guy Delcourt Productions, 2013. Ohne Seitenzahlen (ca. 300 Seiten).

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Marcel Proust: Auf dem Weg zu Swann

Wolfgang Krisai: "Saloneinspänner in einem Wiener Kaffeehaus". Zwar kein Tee mit Madeleine, aber ein nicht minder anregendes Getränk.

Wolfgang Krisai: „Saloneinspänner in einem Wiener Kaffeehaus“. Zwar kein Tee mit Madeleine, aber ein nicht minder anregendes Getränk.

Im dritten Anlauf geschafft: Der erste Band der „Recherche“ liegt hinter mir. Angespornt haben mich Freund Michael G. und die Bloggerin Xeniana (xeniana.wordpress.com), die beide ebenfalls zur Zeit Proust lesen.
Vielleicht hat auch die schöne neue Ausgabe in der Reclam Bibliothek, mit ihrer neuen Übersetzung von Bernd-Jürgen Fischer, zum Erfolg beigetragen. Meine alte Suhrkamp-Taschenbuch-Ausgabe ist ja nicht gerade eine bibliophile Rarität, und ich halte so gern schöne und gut gemachte Bücher in Händen.

Ich fragte mich ja immer, was nun gerade an Proust so bemerkenswert sein sollte. Jetzt verstehe ich seine literaturgeschichtliche Bedeutung schon ein bisschen mehr, obwohl ich mir nicht anmaßen würde, zu Proust irgendetwas besonders Substantielles sagen zu können. Dazu war meine Lektüre zu unbedarft, zu zerstückelt und – ich gestehe es – zu sehr vom häufigen Einnicken bedroht.

Proust zu lesen ist nämlich kein spannendes Erlebnis, sondern eine ziemlich harte Aufgabe, etwa wie Mikroskopieren es für einen Nicht-Biologen sein mag. Man blickt in riesenhafter Vergrößerung in die Welt, deren winzige Einzelbestandteile – Gefühlsnuancen, Beziehungsschattierungen, Erinnerungswölkchen – einem vor den Augen tanzen in einer Detailliertheit, wie man sie noch nie gesehen hat. Und der Zauberer, der sie sichtbar gemacht hat, bedient sich noch dazu einer Sprache, die für jede Winzigkeit eine Lawine von Vergleichen und Beschreibungsvariationen niedergehen lässt, unter der man leicht verschüttet werden kann. Dann weiß man am Ende eines Absatzes nicht mehr, was da nun eigentlich der Auslöser für das sprachliche Elementargeschehen war, das einen umwirbelt hat.
Es würde mich interessieren, wie diese Beschreibungslawinen im Geist des Autors entstanden sind: „Kamen“ sie ihm „einfach so“? Das ist ja höchst unwahrscheinlich. Andererseits wirken sie nicht so, als hätte Proust daran mühevoll herumgebosselt und die Darstellung Schicht für Schicht mit neuen und noch weiter hergeholten Vergleichen angereichert. Jedenfalls kommen immer wieder überraschende Metaphern heraus, die einen Vorgang, eine Person oder ein Gefühl äußerst treffend erfassen und so noch nie gesagt wurden.

Bei solcher Detailbesessenheit kann natürlich nicht einmal auf 580 Seiten eine große Romanhandlung entfaltet werden. Eigentlich erzählt Proust überhaupt keine „Handlung“, sondern er erzählt eher „pluralisch“, wie man eben gern erzählt: „Als wir noch klein waren, gingen wir immer gern zu Tante XY, wo es so gute Gummibärchen gab. Wir Kinder hörten dann stundenlang unserer Mutter zu, wie sie mit der Tante über Z redete, die die ärgerliche Gewohnheit hatte, …“ (Das war jetzt natürlich nicht Proust, sondern buchwolf.) Es wird also nicht ein Einzelereignis erzählt, sondern das, was „normalerweise“ so ablief, immer wieder vorkam oder zur Gewohnheit geworden war. Was Proust nicht daran hindert, mitten in diesem „pluralischen“ plötzlich in „singularisches“ Erzählen zu verfallen, um das Gewohnte anhand eines spezifischen Einzelereignisses besonders deutlich vor Augen zu führen.
Proust lässt nicht nur allerlei solche Sachen aus seiner – genauer: der Erzählerfigur – Erinnerung auftauchen, sondern er begrübelt auch die Umstände, wie es zu just dieser und nicht einer anderen Erinnerung kommt. Berühmt ist da die Madeleine-Szene, wo das Eintunken des Madeleine-Gebäcks in den Tee (eine seltsame Gewohnheit, die aber vielleicht einst in Frankreich en vogue war) sofort entsprechende Kindheitserinnerungen aus dem Unterbewusstsein auftauchen lässt.
Typisch für das Proustsche Erzählen ist auch die Abschweifung, denn eine Sache erinnert vielleicht an eine andere, die ihrerseits wieder durch etwas Drittes näher erläutert wird, wodurch etwas Viertes ins Bewusstsein gerufen wird. Da kann es schon einige Zeit dauern, bis der Erzähler sich wieder des eigentlichen Ausgangspunktes erinnert und zu diesem zurückkehrt. Man muss sich als Leser hier einfach den Bewusstseinsströmungen des Erzählers anvertrauen und annehmen, dass das hin und her getrieben Schifflein des Romans nicht irgendwo sinnlos stranden wird.
Es dürfte denn auch eine genuin proustianische Lese-Haltung sein, wenn man da selbst des öfteren auch als Leser gedanklich abschweift, unaufmerksam wird und sich in eigenen Vorstellungen verliert – bis man daraus wieder auftaucht und merkt, dass man zehn, zwanzig Zeilen „gelesen“ hat, ohne das Geringste davon mitzubekommen. Ich habe mir in solchen Fällen nicht die Mühe gemacht, nochmals das geistesabwesend „Gelesenene“ zu lesen. Das ist auch wieder wie beim Zuhören bei einer ausschweifenden Erzählung; man wird abgelenkt, denkt kurz an etwas anderes und will dann nicht immer eingestehen, dass man etwas nicht mitbekommen hat, hört weiter zu und hofft, dass das Überhörte nicht sooo wichtig war oder sich rückwirkend erschließt.

Worum aber geht es denn nun in diesem Roman?

Es gibt drei große Abschnitte:
„Combray“ – „Eine Liebe von Swann“ – „Ländliche Namen: der Name“. Der letzte ist der bei weitem kürzeste. Alle drei werden von zwei Figuren zusammengehalten: vom Erzähler-Ich Marcel (ich kann mich nicht erinnern, dass der Name irgendwo vorgekommen wäre – und er ist es auch nicht, obwohl manche Forscher behaupten, der Erzähler sei „Marcel“(1), aber der Einfachkeit halber nenne ich ihn jetzt so) und von Charles Swann, einem Bekannten der Familie des Erzählers.

In „Combray“ (dem ländlichen Ort, wo die Familie Marcels den Sommer verbringt) ist der Ausgangspunkt für eine Erinnerungs-Orgie die Angst des kleinen Marcel, ohne Gutenachtkuss der Mutter ins Bett gehen zu müssen. Wo ist da das Problem?, fragt man sich heute. Man muss aber bedenken, dass Ende des 19. Jahrhunderts in der gehobenen Gesellschaft ein Kind bei weitem nicht als eine so wichtige, bei allen Gelegenheiten zu verzärtelnde Hauptfigur des Familienlebens galt, wie das heute oft der Fall ist. Es war schon ein Zugeständnis, dass ein Vater der Gattin erlaubte, dem Kind einen Gutenachtkuss zu geben. Gab es aber Besuch, kamen solche Extravaganzen nicht in Frage. Und Besuch gab es in Combray oft. Zum Beispiel von Herrn Swann, dem Freund der Familie. Wenn nun Besuch da ist, denkt sich Marcel die kompliziertesten Schachzüge aus, um doch noch seinen Gutenachtkuss zu ergattern, und sei es auch auf die Gefahr hin, beim Vater in Ungnade zu fallen.
Um diese Gutenachtkuss-Problematik ranken sich Erinnerungen an verschiedene Verwandte mit den seltsamsten Marotten, an Bedienstete (unter denen Françoise besonders hervorsticht, die zunächst die Kammerfrau einer schrulligen, hypochondrischen Großtante und nach deren Tod die Kinderfrau Marcels ist) oder an Freunde und Bekannte der Familie. Es geht auch um die Frage, wann und bei welchem Wetter die Familie ihren üblichen Spaziergang eher in die Richtung gehen würde, wo die Grafenfamilie der Guermantes wohnt (die wohl in späteren Romanen der „Recherche“ noch eine größere Rolle spielen wird), oder in die Richtung der Familie Swann (der frz. Originaltitel heißt ja: „Du côté de chez Swann“, was der Übersetzer als „Auf dem Weg zu Swann“ übersetzt hat).
Als man einmal in Richtung Swann spaziert, sieht Marcel im Garten der Swanns ein junges Mädchen, dessen Anblick ihn verzaubert. Von einer Dame wird es „Gilberte“ gerufen. Fortan weiß Marcel, wie sie heißt, und die Mädchen-Erscheinung geistert ihm durchs Gemüt.

Irgendwann hört dann dieser Erinnerungsstrang auf. Schnitt. Es folgt das Kapitel „Eine Liebe von Swann“, das seltsamer Weise nicht aus direkten Erinnerungen Marcels gespeist wird, sondern die Erinnerungsfiktion beiseite lässt und auf gut auktorial erzählt, wie Swann seiner jetzigen Frau Odette verfällt. Es wird aber in keiner Weise klar, weshalb Swann Odette dann offenbar geheiratet hat, denn diese Liebes-Geschichte ist nur anfangs eine solche, dann aber – wie es in Liebes-Angelegenheiten ja oft vorkommen mag – eine Geschichte des Auseinanderdriftens und der Eifersucht Swanns, der es nicht erträgt, dass Odette ihn mit anderen betrügt. Dabei hätte er als Mann von Welt sich da erstens nicht wundern und zweitens vorher leicht kundig machen können. Denn Odette scheint eine stadtbekannte Lebedame zu sein. Doch Swann sieht sie und wird sogleich vor Liebe blind. Nicht nur entspricht Odette gar nicht seinem bisherigen „Schönheitsideal“ (Typ pausbäckiges Mädel vom Land), sondern scheint eher einem Gemälde von Botticelli entstiegen zu sein (Typ hohlwangige Blondine), sie passt auch interessensmäßig und vom intellektuellen Niveau nicht zu ihm und verkehrt in ganz anderen Kreisen (die Swann zunächst gerne aufnehmen, später aber wieder „verstoßen“). Die ganze Affäre ist also ziemlich verquer, und der Erzähler walzt denn auch diese Inkommensurabilitäten mehr als breit aus. Und die Eifersucht des gehörnten Swann dann erst recht, was geradezu Mitleid erregend wird, wenn man sieht, wie dieser Mann zum Beispiel eines Abends von Odette verfrüht nach Hause geschickt wird (sie fühle sich nicht gut), dann aber misstrauisch noch einmal zurückkehrt, am ebenerdigen Fenster horcht, eine Männerstimme hört, sich in seiner Eifersucht bestätigt sieht, gleich energisch ans Fenster klopft, um Odette in flagranti zu ertappen, und dann vor Peinlichkeit in den Boden versinkt, als er feststellt, dass er am Fenster von Odettes Nachbarn gehorcht hat.
Übrigens ist der Vergleich Odettes mit einer Botticelli-Figur nur eines von vielen Beispielen, wie Proust kunstgeschichtliches Material zur Veranschaulichung heranzieht. Es wäre sicher eine interessante Sache, einen mit all jene Kunstwerken illustrierten Proust herauszubringen, die im Roman eine Rolle spielen.

Auch dieses Kapitel endet irgendwann. Der Erzähler widmet sich nun einem Kindheitsabschnitt aus Paris. Marcel ist ein kränklicher Knabe, der allzu gerne nach Balbec an der Antlantikküste oder gar nach Florenz oder Venedig gereist wäre, lauter Orte, deren bloße Namen bei ihm schon ganze Feuerwerke von begeisternden Assoziationen heraufbeschwören, die zu bereisen ihm aber der Arzt strikt verboten hat. Das höchste der Gefühle sind die Spaziergänge zum Spielplatz in den Champs-Elysées unter der Aufsicht von Françoise. Doch dort gibt es jemanden, dessen Anwesenheit ihn dann für die verbotenen Reisen mehr als entschädigt: Gilberte Swann, die auch dorthin spielen gehen darf und Marcel bald in den Kreis ihrer Spielgefährten einbezieht. Doch, o Pech, sie scheint nichts von der glühenden Liebe Marcels zu ihr zu bemerken, während dieser jeden Tag der ersehnten nachmittäglichen Spielstunde entgegenfiebert. Und hat Gilberte einmal keine Zeit, so erfindet Marcel diverse andere Möglichkeiten, ihr zumindest „nahe“ zu sein: Er streift vor ihrem Wohnhaus herum oder lauert ihrer Mutter bei ihren Sehen-und-gesehen-werden-Spaziergängen im Bois du Boulogne auf.
Tja, doch auch diese Erinnerungen verfliegen. Die letzten Worte des Romans lauten: „die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur die Wehmut nach einem bestimmten Augenblick; und die Häuser, die Wege, die Avenuen, entfliehen, ach, wie die Jahre.“
Der überflüssige Beistrich nach Avenuen steht wirklich da und ist ein Beispiel für einige – zum Glück wenige – Pannen der Übersetzung oder des Setzers. In späteren Auflagen wird man wahrscheinlich aus „der Flair“ (S. 105f) „das Flair“ machen, dem „Rigi“ einen Artikel beifügen (S. 341) oder das unsägliche Wort „zögerlich“ auf S. 542 durch ein besseres ersetzen.

Die Neuübersetzung scheint mir trotzdem gelungen zu sein. (Ich sage das, obwohl ich jetzt keine Vergleiche mit dem Original oder der Suhrkamp-Übersetzung angestellt habe.) Und sie liegt dem Verlag bereits vollständig vor. Die weiteren Bände werden im Abstand von jeweils einem halben Jahr erscheinen, wie mir die Dame am Reclam-Stand der „Buch Wien“ erzählt hat. Es könnte durchaus sein, dass ich mich auf die weiteren Bände auch noch einlasse…

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 1: Auf dem Weg zu Swann. Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer. Reclam, Stuttgart, 2013. Reclam Bibliothek. 693 Seiten.

(1) Das steht in dem erhellenden Artikel zum Stichwort „Erzählung“ in der „Marcel Proust Enzyklopädie“, hg. von Luzius Keller, Hoffmann und Campe, Hamburg 2009. Wie dieser Artikel in die komplexe Problematik der Erzählerfigur(en) bei Proust geben viele weitere Artikel dieses umfangreichen Bandes interessante Auskünfte zu Proust-Fragen aller Art.

Den Roman schenkte mir übrigens meine Frau zum Geburtstag, und die Enzyklopädie bekam ich von meinem Freund Michael zum gleichen Anlass. Beiden sei herzlich gedankt für das Literatur-Erlebnis!

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François de La Rochefoucauld: Maximen und Reflexionen.

Wolfgang Krisai: Schloss La Rochefoucauld. Buntstift. 2013.

Wolfgang Krisai: Schloss La Rochefoucauld. Buntstift. 2013.

Wer sich je mit der Gattung des Aphorismus befasst hat, stößt zwangsläufig auf einen der großen frühen Aphoristiker: François de La Rochefoucauld. Gewusst habe ich also schon lange von ihm, gelesen aber nichts.

Heuer im Sommer kamen wir durch den Ort La Rochefoucauld gleich bei Angoulême und besichtigten dort das imposante Schloss der Familie des Autors. Die Herzöge von La Rochefoucauld sind noch heute Besitzer des Schlosses. In der Barockzeit lebte François VI., der durch seine Maximen und Reflexionen unsterblich geworden ist. Geboren wurde er übrigens 1613, er zählt also zu den prominenten Jubilaren des heurigen Jahres. Gestorben ist er 1680.

Schon in Angoulême hatte ich mir eine französische Taschenbuchausgabe der „Maximes“ gekauft und zu lesen begonnen. Alles zu verstehen erlaubte mir aber mein mangelhaftes Französisch nicht, daher kaufte ich mir zu Hause dann die zweisprachige Reclam-Ausgabe. Sie enthält nicht nur alle Maximen, sondern auch einen ausführlichen Kommentar und ein informatives Nachwort über den Autor und die Aphorismen.

Unverändert aktuell

Was ich nicht erwartet hätte: dass fast alle seiner Maximen heute unverändert aktuell sind. Die von ihm aufgezeigten schlechten Eigenschaften des Menschen haben sich eben nicht geändert. Noch immer lieben wir uns selbst mehr als unsere Mitmenschen, verfallen wir dem Dünkel, der Ruhmsucht oder der Trägheit (die La Rochefoucauld als besonders mächtige, weil auf leisen Sohlen daherkommende, Vernichtungskraft brandmarkt). Häufig bilden wir Menschen uns etwas ein, zum Beispiel, wie edelmütig wir doch wären, und in Wirklichkeit, so La Rochefoucauld, steckt nur Eigennutz dahinter. Sogar das Mitleid ist nur ein Mittel, uns selbst besser zu fühlen.

Immer wieder ist man amüsiert, wie treffend La Rochefoucauld die menschlichen Unzulänglichkeiten erfasst. Und nicht selten fühlt man sich ertappt.

 

Ein paar Kostproben:

Wer sich zu viel mit Kleinem abgibt, wird gewöhnlich unfähig zum Großen. (Maxime Nr. 41)

Ein kluger Mensch muss seine Interessen einzustufen wissen und ihre Rangfolge im Auge behalten. Unsere Begierde bringt sie oft durcheinander und lässt uns so viele Angelegenheiten zugleich verfolgen, dass wir die wichtigsten verfehlen, weil wir die weniger wichtigen für vordringlich hielten. (66)

Mit der wahren Liebe verhält es sich wie mit Geistererscheinungen: Alle Welt redet davon, aber nur wenige haben welche gesehen. (76)

Jedermann klagt über sein Gedächtnis und keiner über seinen Verstand. (89)

Mit nichts ist man so freigiebig wie mit seinen Ratschlägen. (110)

Man begeht öfter aus Schwäche Verrat als aus der festen Absicht, Verrat zu üben. (120)

Für gewöhnlich lobt man nur, um gelobt zu werden. (146)

Schmeichelei ist ein Falschgeld, dessen Wert unsere Eitelkeit bestimmt. (158)

Während Trägheit und Zaghaftigkeit uns in den Grenzen unserer Pflicht halten, heimst die Tugend oft die ganze Ehre dafür ein. (169)

Die wahre Beredsamtkeit besteht darin, alles zu sagen, was nötig ist, und nur das zu sagen, was nötig ist. (250)

Die Jugend ist eine beständige Trunkenheit; sie ist das Fieber der Vernunft. (271)

Das so überaus große Vergnügen, das es uns bereitet, von uns selbst zu reden, sollte uns befürchten lassen, dass wir unseren Zuhörern damit keineswegs gefallen. (314)

Die Wahrheit des folgenden Aphorismus ist meiner Frau an mir schon längst aufgefallen: Man bewahrt sich den Akzent seines Geburtsortes im Geist und im Herzen ebenso wie in der Sprache. (342)

Und der folgende, scheint mir, trifft auf den Grafen Wronski aus „Anna Karenina“ zu: Ein Mann von Welt kann wie ein Verrückter verliebt sein, aber nicht wie ein Dummkopf. (353)

In einer Stellung, die unser unserer Befähigung liegt, können wir groß erscheinen, aber in einer Stellung, die größer ist als diese, erscheinen wir oftmals klein. (419)

Man darf den Wert eines Menschen nicht nach seinen großen Gaben beurteilen, sondern nach dem Gebrauch, den er davon macht. (437)

Es gibt keine lästigeren Dummköpfe als die witzigen. (451)

Junge Leute müssen bei ihrem Eintritt in die Gesellschaft verschämt oder unüberlegt sein; treten sie kennerhaft und selbstsicher auf, so verwandelt sich ihr Verhalten für gewöhnlich in Impertinenz. (495)

 

Knapp 200 Reclam-Seiten Menschenkenntnis also:

François de La Rochefoucauld: Maximes et réflexions morales / Maximen und Reflexionen. Französisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Jürgen von Stackelberg. Reclam, Stuttgart, 2012. Reclams Universalbibliothek 18877. 287 Seiten.

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Amandine Péchinoat & Kanako Kuno: Les Parisiens

Wolfgang Krisai: Die Pariserin beim Frühstück. Tuschpinsel, gezeichnet nach einem der im Buch enthaltenen Fotos.

Wolfgang Krisai: Die Pariserin beim Frühstück. Tuschpinsel, gezeichnet nach einem der im Buch enthaltenen Fotos.

(English summary below.)

Gezeichnete Bücher, in denen kaum Text steht – das ist auch auf Französisch kein Problem. Dieses hier ist ein besonderer Genuss, weil der Lebensstil der jungen, modernen Pariserin genau getroffen ist und auf sympathische Weise auf die Schaufel genommen wird.

Das Buch ist aus einem Blog mit dem Titel „My little Paris“ (www.mylittleparis.com – eine Website, die leider in einigen Punkte zumindest auf meinen Computern nicht funktioniert) hervorgegangen, der vor allem durch das perfekte Zusammenspiel der Zeichnungen von Kanako Kuno, einer japanischen Wahlpariserin, und der Autorin Amandine Péchinoat besticht. Auch im Buch ist es den beiden gelungen, dieses Zusammenspiel fortzusetzen, und man blättert begeistert und schmunzelnd von Seite zu Seite und ist viel zu schnell am Ende.

Lustig zum Beispiel ist die Darstellung der Wohnsituation der Parisienne: In einem winzigen chambre de bonne (mehr kann sich die junge Frau nicht leisten, wie wir wissen) häufen sich zeitgeistige Dinge wie die nie gebrauchte Yogamatte oder an die Wand gepinnte Instagram-Fotos.

Auf einer ausklappbaren Doppelseite sieht man sogar einen Schnitt durch das ganze Wohnhaus, von der Boulangerie im Erdgeschoß bis zur Dachwohnung eines sich auseinandergelebt habenden Paares. Im vierten Stock befindet sich das Appartement der Pariserin…

Auf Seite 43 macht sich die enttäuschte junge Dame mit einer Zange über das einst zuversichtlich an der Pont des arts angebrachte Liebes-Vorhängschloss her: „Coeur brisé“! Na, es wird nicht lange dauern, und sie hat einen Neuen.

Äußerst treffend auch, was die Pariserin liebt:

… quand on lui fait un compliment sur ses vȇtements;

… boire un café en faisant semblant de lire Le Monde.

… faire sauter les collants dès que le printemps se pointe;

… recevoir un sexto (das ist kein Tippfehler, sondern ein dazugelerntes Wort).

Man sieht: Nach der Lektüre ist man nicht nur besser aufgelegt, sondern auch gebildeter!

Amandine Péchinoat & Kanako Kuno: Les Parisiens. Ce qu’ils disent, ce qu’ils font, ce qu’ils pensent. Paris, Èditions du Chéne, 2012. 112 Seiten. Gebunden.

English summary:

Books containing only drawings with a little text – that is no problem even in french. This one is an extraordinary pleasure, as ist outlines the lifestyle of a young modern woman in Paris and makes fun of it in a sympathetic way.

The Book is based an the blog www.mylittleparis.com, the drawings of Kanako Kuno and the texts of Amadine Péchinoat are a perfect symbiose.

Very funny is the presetation of the home of the Parisienne: an appartment full of stylish things like a never used yoga-mat or instagram-pictures pinned to the wall, in the fourth floor of an old Paris house with a baker’s in the ground floor.

On page 43 you see her trying to cut off the padlock once put there: „Broken heart“ is the title. She certainly will not have to wait long for a new lover.

Very characteristic what the Parisienne loves:

… compliments about her clothes;

… drinking coffee while giving herself the air of reading Le Monde;

… put off the panty as soon as the first signs of spring show up;

… getting a „sexto“, an erotic message (a word I didn’t know before).

You see: after reading the book you not only feel better but also know more.

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