Archiv der Kategorie: Graphic Novels, Comics, BD

Matiychuk, Oxana: Rose Ausländers Leben im Wort

Bei der Buch Wien 2021 kam mir diese kurze Graphic Novel unter (die streng genommen überhaupt keine ist, da sie kein Sprechblasen mit Dialogen hat, sondern nur einen fortlaufenden Text über Rose Ausländer), ich kaufte sie und las sie mit großem Interesse.

Rose Ausländer hatte ein bewegtes Leben, leider nicht freiwillig, denn als Czernowitzer Jüdin war sie von der Geschichte des 20. Jahrhunderts bedroht. 

In Czernowitz geboren

Sie kam als Rosalie Scherzer 1901 in Czernowitz zur Welt. 1914 flieht die Familie vor dem Ersten Weltkrieg nach Wien. Sie besucht ein Handelslyzeum und schreibt erste Gedichte.

1919 war sie wieder in Czernowitz, das damals zu Rumänien gehörte. Nach dem Tod des Vaters geht sie nach Amerika, da sie auf diese Weise der Armut zu entkommen hofft. Auf dem Schiff begleitet sie ein Freund der Familie, Ignaz Ausländer, den sie in Amerika heiratet. Ab 1923 leben die beiden in New York, zuvor in Minnesota. Rose sehnt sich nach der Bukowina zurück.

Beide erhalten die amerikanische Staatsbürgerschaft. Daraufhin macht Rose einen Besuch in Czernowitz und lernt dort die Liebe ihres Lebens kennen, den Graphologen Helios Hecht. Sie lässt sich scheiden, um ihn zu heiraten, doch er kann sich nicht scheiden lassen, daher wird aus einer Ehe nichts. Trotzdem leben die beiden zusammen, Rose schreibt für Czernowitzer Zeitungen. Als Helios einige ihrer Gedichte, begleitet von einer graphologischen „Charakteranalyse“, ohne ihre Zustimmung veröffentlicht, kommt es zu Bruch. Ab dann lebt Rose Ausländer allein. 

Die Judenverfolgung überlebt

Nach dem Hitler-Stalin-Pakt fällt Czernowitz an die UdSSR, bald darauf wird es von den Deutschen erobert. Sofort beginnen die Nazis mit der systematischen Judenverfolgung. In Czernowitz wird ein Ghetto errichtet, in das auch Rose gerät. Viele Juden werden ermordet, doch Rose überlebt. Ab 1944 ist Czernowitz wieder sowjetisch. Rose kann 1946 in die USA ausreisen. Doch dort wird sie nicht glücklich. Also beschließt sie 1964, wieder nach Europa zu ziehen, zunächst nach Wien, wo sie aber eine nach wie vor judenfeindliche Atmosphäre vorfindet, sodass sie nach Düsseldorf zieht. Dort hat sie aber kein richtige Wohnung, sondern zieht von Pension zu Pension, wenn sie nicht gerade auf Reisen ist. Ihre Habe ist in einem Dutzend Koffern verstaut.

Im Nelly-Sachs-Haus

Ein schwerer Beinbruch führt 1972 zu permanenter Behinderung, sodass sie in einem Altersheim für Künstler*innen Zuflucht und Pflege in Anspruch nehmen muss, im Nelly-Sachs-Haus, das der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf gehört. Dort bleibt sie bis zu ihrem Tod 1988. Ihre Kontakte werden immer weniger, schließlich hört sie auch zu schreiben auf.

Diese Graphic Novel ist sehr einfach geschrieben, aber originell gestaltet. Eine perfekte erste Einführung in Leben und Werk der Autorin.

Die Illustrationen und die Gestaltung stammen von Olena Staranchuk und Oleg Gryshchenko, die Übersetzung von Kati Brunner.

Matiychuk, Oxana: Rose Ausländers Leben im Wort. Graphic Novel. Übersetzt von Kati Brunner.  Gestaltung von Olena Staranchuk und Oleg Gryshchenko. Danube books, Ulm, 2021. 52 Seiten. 

Bild: Wolfgang Krisai: Ellis Island in New York, Gebäude der Einwanderungsbehörde. 2017. Tuschestift.

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Olivier Kugler: Dem Krieg entronnen. Begegnungen mit Syrern auf der Flucht

Aus: Olivier Kugler: Dem Krieg entronnen. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Edition Moderne, Zürich.

Ein außergewöhnliches Buch! Eines, das man zu Pflichtlektüre für alle machen will, damit jede/r die Situation syrischer Flüchtlinge besser versteht.

Bekanntschaft mit Betroffenen

Am besten kann man Verständnis wecken, wenn man eine Bekanntschaft mit Betroffenen vermitteln kann. Und genau das macht diese „gezeichnete Reportage“ über syrische Flüchtlinge. Der deutsch Reportagenzeichner (ja, so etwas gibt es!) Kugler fuhr im Auftrag von Ärzte ohne Grenzen in Flüchtlingslager und sprach dort mit Flüchtlingen und Betreuern und macht Fotos, nach denen er später seine Zeichnungen anfertigte.

Gezeichnete Reportage

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Das Buch ist keine Graphic Novel im strengen Sinne, denn es enthält keine mittels Panels erzählten Geschichten, sondern jede Doppelseite ist ein großes Panel, in dem Bild und Text bunt zusammengewürfelt sind. Damit man die Orientierung nicht verliert, geben Nummern, Pfeile und Zeichen die Leserichtung an.

Die Bilder sind zu Teil wie durchsichtig, zum Teil richtig „ausgemalt“ (digital natürlich), zum Teil aber nur mit Farbflächen unterlegt. Das ergibt ein wunderbares Spiel von Farben und Formen.

Aus: Olivier Kugler: Dem Krieg entronnen. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Edition Moderne, Zürich.

Flüchtlinge im Irak, in Griechenland, Frankreich, England und Deutschland

Der erste, längste Teil, befasst sich mit EinwohnerInnen des Flüchtlingslagers Domiz nördlich von Mossul im kurdischen Teil des Iraks. Kugler stellt zuerst die Mitglieder des psychologischen Teams von „Medicins sans frontières“ (MSF) vor, danach widmet er sich den Flüchtlingen, zum Beispiel dem Imbissbudenbesitzer Muhamad, dem Fernsehtechniker Habib, der jungen Mutter Vian, den Hirten Muhamed und Muhamed, dem Sound-System-Verleiher Djwan. Die Lagerbewohner versuchen ja, obwohl sie unter Slum-ähnlichen Bedingungen wohnen, eine Art „normales Leben“ aufrecht zu erhalten, wo auch manchmal ein Fest gefeiert wird, wofür eine Soundanlage gemietet wird. Jeder aber trägt ein furchtbares Schicksal und erzählt von den Schrecken des Krieges, der Flucht und der Asylsuche. Das ist ergreifend.

Aus: Olivier Kugler: Dem Krieg entronnen. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags  Edition Moderne, Zürich.

Nach dem Irak kommt die griechische Insel Kos an die Reihe: mit dem Modedesigner Rezan oder dem Medizinstudenten Omar, der 17jährigen Schülerin Noura oder der jungen Mutter und Physikstudentin Amira.

Auch dem „Dschungel“ von Calais ist ein Kapitel gewidmet, eines, das uns die Jämmerlichkeit und Unmenschlichkeit unserer westlichen Flüchtlingspolitik besonders deutlich vor Augen führt.

Die beiden abschließenden Kapitel befassen sich mit Menschen, die schon Asyl und Unterkunft gefunden haben: eine Familie in Birmingham, die Anästesistin Dr. Waffa in London und eine Familie in Simmozheim im Schwarzwald, wo Olivier Kugler herstammt.

Ein Meisterwerk

Zwischen die großen Kapitel sind Informationsseiten gestellt, die über die heutige Situation in den jeweiligen Orten informieren.

Alles ist sehr eingängig geschrieben, man ist sozusagen mit dabei, wie es sich für eine Reportage gehört. Ein Meisterwerk.

Olivier Kugler: Dem Krieg entronnen. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Edition Moderne, Zürich.Olivier Kugler: Dem Krieg entronnen. Begegnungen mit Syrern auf der Flucht. Edition Moderne, Zürich, 2017. 80 Seiten. Durchgehend farbig illustriert.

Veröffentlichung der Bilder mit freundlicher Genehmigung des Verlags Edition Moderne, Zürich.

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François Dupraire, Farid Boudjellal: Die Präsidentin

Wolfgang Krisai: "Eva nach dem Sündenfall", Aquarell nach einer Marmorstatue von Eugène Delaplanche im Musée d'Orsay, Paris.

Ich konnte nicht umhin, mir diese Graphic Novel zu kaufen, in der vorgestellt wird, was passieren würde, wenn Marine Le Pen 2017 französische Präsidentin werden würde.

Die Bilder stammen von Farid Boudjellal, der Text von François Durpaire. Die Bilder sind schwarzweiß (mit Ausnahme des Coverbilds) und so realistisch gezeichnet, dass man annehmen muss, die Basis zumindest für die Gesichter wären jeweils Fotos. Da es von den Politikern im Internet ja massenhaft Fotos gibt, wäre das gar nicht so unmöglich.

Der Text beschränkt sich nicht nur auf die üblichen Comic-Sprechblasen und Zwischentexte, sondern bietet manchmal auch erklärende längere Sachtexte, z. B. eine Doppelseite „Kurze Geschichte der digitalen Überwachung“, aber auch kürzere Info-Kästchen. Man lernt da eine Menge daraus.

Auswirkungen auf multikulturelle WG

Die Grundidee des Buches ist, dass den politischen Geschehnissen deren Auswirkungen auf eine multikulturelle WG gegenübergestellt werden. Darin gibt es Antoinette, eine Oma, die einst in der Resistance gekämpft hat und nun mit ohnmächtiger Wut den Aufstieg Marine Le Pens miterleben muss.

Ihre Enkel Stéphane und Tariq engagieren sich im Internet gegen Marine.

Fati, eine Araberin, ist die Freundin von Tariq und sieht in Antoinette und ihren Enkeln ihre eigene Familie.

Diese eingeschworenen Gegner Marine Le Pens machen nun einen Blog gegen die Präsidentin und laufen am Ende Gefahr, deshalb festgenommen zu werden.

Parteiprogramm Schritt für Schritt verwirklicht

Was sich innerhalb der ersten Monate nach der Wahl politisch abspielt, ist Gegenstand der politischen Haupthandlung. Dabei haben die Autoren lediglich das Parteiprogramm der Front national zugrundegelegt und angenommen, die darin ausgesprochenen Forderungen würden nun Schritt für Schritt in die Tat umgesetzt. Ausländerfeindliche Maßnahmen, Ausweisung der maghrebinischen Franzosen, Bekämpfung regierungskritischer Medien und Personen, usw.

Ein Schreckensszenario.

Und dennoch ein interessantes und gut zu lesendes Buch.

François Dupraire, Farid Boudjellal: Die Präsidentin. Mit einem Vorwort von Ulrich Wickert. Aus dem Französischen von Edmund Jacoby. Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2016. Frz. Originalausgabe 2015. 158 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: „Eva nach dem Sündenfall“, Aquarell nach einer Marmorstatue von Eugène Delaplanche im Musée d’Orsay, Paris. – Hoffentlich nicht bald ein Symbol für „La France“.

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Margaux Motin et Pacco: Oui! 101 questions à se poser avant de se marier

Lesende mit Katze

Hätte ich diese Frau auch geheiratet, wenn ich vorher die 101 Fragen, die man sich vor der Hochzeit stellen sollte, beantwortet hätte? Zweifellos! Immerhin beantwortete sie meine erste und wichtigste Frage, als wir uns noch kaum kannten, mit „Ja!“: „Liest du gern?“

Kann man ein Cartoon-Buch, das „101 Fragen, die man sich vor der Hochzeit stellen sollte“ behandelt, auch mit Vergnügen lesen, wenn man schon an die 30 Jahre verheiratet ist? Man kann, insbesondere dann, wenn Margaux Motin es – in diesem Fall gemeinsam mit dem Comiczeichner Pacco – illustriert hat. Denn die Cartoons sind das Dominante in den Buch, obwohl den Texten genauso viel Platz eingeräumt ist – den sie aber nie ausfüllen.

1 Seite Text, 1 Seite Bild

Auf der jeweils linken Seite steht nämlich die Frage und ein kurzer Text, der sie näher erläutert (natürlich auf lustige Weise), und dabei bleibt mindestens die Hälfte der Seite leer, während jeweils rechts der dazugehörige Cartoon die ganze Seite füllt.

Matin oder Pacco?

Margaux Motin, die ich ja schon von drei anderen Comicbüchern kenne, hält auch in diesem Buch ihr Niveau. Allerdings ist es sehr schwer, ihre Cartoons von jenen ihres Co-Illustrators Pacco zu unterscheiden. Motin zeichnet mit einem etwas feineren Strich, Pacco mit einem dickeren. Die Unterschiede sind aber minimal. Die Figuren bewegen sich unglaublich wirklichkeitsnah, haben eine mehr als überzeugende Mimik, die Accessoirs, die im Bild zu sehen sind, passen hundertprozentig – und das alles in einem vereinfachenden Cartoon-Stil, der meine Frau – die mir das Buch übrigens aus Paris mitgebracht hat – an Uli Stein erinnert. Es gibt keine Schattierungen und keine Schatten, kaum ausgeführte Hintergründe – wozu auch? Es geht auch ohne.

Junge Leute von heute

Die dargestellten Menschen sind paradigmatische junge Leute „von heute“, die Frauen alle superschlank und in Shorts oder engen Kleidern, die Männer als oft bärtige „Dudes“, beide Geschlechter nach Bedarf mit Tattoos verziert. Sofern die Gestalten nicht „handlungsbedingt“ z. B. in Sado-Maso-Outfit, Oktoberfest-Dirndl und -Lederhose, Badekleidung oder, zum Schluss, in Brautkleid und Hochzeitsanzug in Erscheinung treten.

Durchaus brauchbare Fragen

Worum dreht es sich nun aber bei den 101 Fragen, die man sich vor der Hochzeit stellen sollte? Zum Beispiel:

  • um das Vorleben des Partners („Wie lange war er Junggeselle, bevor ihr euch kennenlerntet?“),
  • ist der Partner für eine Beziehung geeignet, auch wenn diese nicht immer paradiesisch ist („Akzeptiert er auch deine schlechten Seiten?“ / „Akzeptiert sie deine seltenen Momente von Schwäche?“),
  • um Alltagsfragen („Wie wirst du euer Geld sparen?“ (Sie hält ihm die Augen zu, als sie im Kaufhaus an der Apple-Abteilung vorbeigehen)), usw.

Im Grunde werden Fragen vorgeschlagen, die man sich wirklich vor einer Heirat stellen sollte.

Durchaus witzige Bilder

Der Witz des Buches besteht darin, dass die Bilder immer überraschende, zum Teil groteske Situationen zeigen, wo sich die jeweiligen Fragen stellen könnten.

Ein Beispiel: „Comment aimez-vous recevoir vos invités pour un moment convival et chaleureux?“ („Auf welche Weise wollen Sie gern Ihre Gäste zu einem warmherzigen und familiären Treffen empfangen?“). Sicher nicht gut, wenn man da allzu differierende Vorstellungen hat. Und das Bild? Zeigt einen Schwung lockere Freunde bei einer gemütlichen Gartenparty – alle nackt.

Noch ein Beispiel: „Qu’est-ce que vos amies pensent de lui?“ („Was halten Ihre Freundinnen von ihm?“) Bild: „Sie“ und ihr Freund „Ryan“ beim Sackhüpfen, Ryan führt und wird von ihren Freundinnen auch noch angefeuert. Das freut „sie“ denn doch weniger: „Non mais vous êtes SÉRIEUSES, bande de CONNASSES?!?“

Also: beste Unterhaltung über partnerschaftliche Fragen. Und für Spezialisten bietet der Band Seite für Seite Anlass zu Detektivarbeit: Motin oder Pacco?

Margaux Motin & Pacco: Oui! 101 questions à se poser avant de se marier. Èditions Delcourt, 2015. Ca. 200 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Lesende mit Katze.Tuschestift, Buntstift. 2015.

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Benjamin Lacombe / Paul Echegoyen: Leonardo & Salaï

Wolfgang Krisai: Skizze nach Andrea del Sartos Gemälde "S. Givanni Battista" im Palazzo Pitti, Florenz. Bleistift, 2011.Das jüngst erschienene Comic „Leonardo & Salaï“ behandelt die homoerotische Beziehung von Leonardo da Vinci und seinem Schüler Salaï, und zwar auf recht originelle Weise. Die Zeichnungen sind zum Teil unglaublich detailliert, vor allem die von Paul Echegoyen gezeichneten Hintergründe. Allerdings sind da auch ein paar historische Ungenauigkeiten unterlaufen, zum Beispiel steht in Venedig schon die Kirche „Santa Maria della Salute“, die erst im 17. Jh. gebaut wurde. Unklar, ob das den Zeichnern bewusst war oder nicht. Der Sache tut das aber keinen Abbruch.

Die Figuren sind wie Marionetten gezeichnet, Leonardo und Salaï sehen fast gleich alt aus, was bei 30 Jahren Altersunterschied auch nicht ganz „korrekt“ ist.

Die Botschaft jedenfalls ist klar: Leonardo hielt es so lange mit dem dubiosen Salaï aus, weil dieser eben sein Geliebter war – und nebenbei auch noch ein recht guter Maler.

Am Ende des ersten Bandes steht Konfliktstoff in Form des neuen Schülern Francesco Melzi vor der Tür. Man darf also auf den zweiten Teil gespannt sein.

Lesenswerte Beigaben

Sehr lesenswert das Gespräch mit den Künstlern am Ende des Bandes, wo auch Skizzen, Teile des Storyboards und Vergleiche zwischen den Originalgemälden Leonardos und den Comicversionen zu sehen sind.

Der deutsche Verlag ist mit Bildmaterial auf seiner Website etwas knausrig, beim französischen Originalverlag „Soleil Productions“ gibt es aber 6 Seiten Leseprobe.

Benjamin Lacombe (Szenario, Storyboard, Malerei, Zeichnung und Farben) / Paul Echegoyen (Mitwirkung am Storyboard, Zeichnung der Hintergründe): Leonardo & Salaï. Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin, 2015. Frz. Original: Soleil, Toulon und Paris, 2014. 95 Seiten.

Unter meinen Zeichnungen fand ich ein zu Salaï passendes Lausbubengesicht aus Renaissance: 

Bild: Wolfgang Krisai: Skizze nach Andrea del Sartos Gemälde „San Givanni Battista“ (1521) im Palazzo Pitti, Florenz. Bleistift, 2011.

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Barbara Yelin: Irmina. Graphic Novel

Barbar Yelin: Irmina. Seite 192/193: Brennende Synagoge. (Copyright Reprodukt / Barbara Yelin)

Barbar Yelin: Irmina. Seite 192/193: Brennende Synagoge. (Copyright Reprodukt / Barbara Yelin)

Umfangreiche Graphic Novels üben auf mich eine besondere Anziehungskraft aus. Allein schon die immense zeichnerische Leistung, die hinter den Hunderten von Panels steckt, beeindruckt. Wenn so ein Werk dann auch noch stilistisch überzeugt, muss es in meine Sammlung. Barbara Yelins Comicroman „Irmina“ musste ich also kaufen, denn er ist wirklich ein Meisterwerk.

Souverän gezeichnet

Yelins vor einigen Jahren erschienene, wesentlich kürzere Graphic Novel „Gift“ hat mich ja schon begeistert. „Irmina“ ist noch besser gezeichnet, scheint mir: souverän vereinfachende und dennoch realistische Zeichnungen, großzügig mit Deckfarbe koloriert, und zwar vorwiegend in Grautönen, die durch blasse Hautfarbe und einzelne andere Farbakzente ergänzt werden. Die Panels sind ziemlich abwechslungsreich gestaltet, indem unterschiedliche Größen und Perspektiven einander abwechseln. Optische Höhepunkte sind die gelegentlichen doppelseitigen Bilder, so zum Beispiel jenes einer brennenden Synagoge mit zusehender Menschenmenge auf den Seiten 192-193.

Damit sind wir auch schon beim Inhalt:

Erzählt werden drei wesentliche Abschnitte aus der Lebensgeschichte der Deutschen Irmina.

In England 1934

Teil 1: Im Jahr 1934 versucht die junge Irmina, die in Deutschland die Schule abgebrochen hat, in England, wohin sie sich durchgeschlagen hat, als Fremdsprachensekretärin Fuß zu fassen. Sie will ein selbstbestimmtes Leben führen, und mit Politik, erst recht mit jener der gerade an die Macht gekommenen Nazis, hat sie wenig am Hut. Sie freundet sich mit einem „Schwarzen“ an, den sie bei einem Fest kennengelernt hat. Er stammt aus Barbados, studiert in Oxford und heißt Howard. Ihn beeindruckt, wie Irmina unerschrocken gegen jede Diskriminierung, etwa, wenn im Kino ein Engländer sich nicht neben einen „Darky“ setzen will, auftritt. Die beiden verlieben, ja verloben sich. Das Problem ist nur: Irmina verdient nicht genug, um sich eine eigene Wohnung in England leisten zu können. Da ihre großzügigen Quartiergeber keinen Platz mehr für sie haben, muss sie – schweren Herzens und mit dem Versprechen, so bald wie möglich zu Howard nach England zurückzukehren – nach Deutschland zurückkehren.

In Deutschland während NS-Zeit

Den größten Teil des Buches umfasst der nun folgende Teil 2, der in Deutschland spielt. Irmina muss sich an ihrem neuen Arbeitsplatz, der zu schlecht bezahlt ist, als dass sich ein England-Ticket ausginge, sexuelle Belästigungen gefallen lassen, hofft aber auf eine Versetzung an die deutsche Botschaft in London. Als daraus nichts wird, pumpt sie sich kurzerhand von einer Freundin das Geld für die Überfahrt. Schon hat sie die Fahrkarte in der Hand, da kommt ihr letzter Brief an Howard zurück: Adressat  verzogen, Adresse unbekannt. Irmina verzweifelt. Fährt nicht nach England. Stattdessen gibt sie dem Liebeswerben Gregors, eines jungen SS-Offiziers, nach, erliegt schrittweise der Nazi-Propaganda, zieht in ein arisiertes Haus ein, bekommt Kinder, führt das Leben einer braven deutschen Mutter und Hausfrau. Von den Nazi-Gräueln will sie nichts wissen. Ihr Mann schickt sie gegen Kriegsende aufs Land, wo es sicherer ist. Eines Tages radelt der Postbote mit einem Telegramm daher: Gregor ist gefallen.

Deutschland / Barbados 1983

Der dritte Teil spielt 1983: Irmina ist seit Jahrzehnten Sekretärin einer Gesamtschule, sie ist die rechte Hand des Direktors und führt das Leben einer alten Jungfer. Eines Tages erhält sie einen Brief aus Barbados. Vom Assistenten des Generalgouverneurs. Dieser habe ihn beauftragt, sie ausfindig zu machen. Wer ist der Gouverneur? Howard! Auch er inzwischen verheiratet, mit Frau und erwachsener Tochter. Und diese heißt Irmina und will zu ihrem Geburtstag jene legendäre Deutsche kenne lernen, nach der sie benannt ist und die einst so mutig gegen Rassendiskriminierung aufgetreten ist. Irmina wird nach Barbados eingeladen, fliegt hin, lebt zwei Wochen im Luxus und lernt beim Geburtstagsfest die schöne Sängerin Irmina kennen.

Am letzten Abend kommt es zur Aussprache mit Howard. Sie erinnern sie an die Vergangenheit. Irmina erzählt vom schon gekauften Ticket nach England und vom zurückgekommenen Brief. Howard sieht sie noch immer als die mutige Deutsche, und Irmina muss sich eingestehen, dass dieses Bild nicht stimmt. Voller Trauer schaut sie auf ihr Leben, in dem sie ihren Idealen, ja, sich selbst untreu geworden ist, zurück und sagt: „Howard, ich war nicht … ich WAR nicht die mutige Irmina … Kannst du mir das …“ (S. 266).

Überzeugende Darstellung

Barbara Yelin gelingt es, ein sehr authentisch wirkendes Bild der düsteren Vergangenheit zu zeichnen, im wörtlich wie im übertragenen Sinn. Denn nicht nur die Bilder mit ihren vielen atmosphärischen Details, auch die Handlung und der Text wirken unglaublich „echt“. Ich denke, dass dahinter viel Recherche-Arbeit steckt, die sich bezahlt gemacht hat.

Inspirierender Fund

Ein Nachwort von Alexander Kirb, Professor für Geschichte an der University of Leicester, beleuchtet die Situation der Mitläufer und Mitläuferinnen in der NS-Zeit, wie Irmina eine war. Barbara Yelin sagt in einer Vorbemerkung: „Vor einigen Jahren fand ich im Nachlass meiner Großmutter einen Karton mit Tagebüchern und Briefen. Dieser Fund hat mich zu dem vorliegenden Comicroman inspiriert.“

Maschinerie des Bösen

Ein erschütterndes Buch, weil es zeigt, wie Menschen, statt das Gute zu tun, der Maschinerie des Bösen unterliegen. Und man kann nicht mit dem verurteilenden Finger auf Irmina zeigen, sondern muss befürchten, dass es einem selbst in einer ähnlichen Lage vielleicht nicht anders ergangen wäre. Die Last des Versagens läge dann für den Rest des Lebens auf einem, und man ginge mit eingezogenem Kopf und gebeugtem Rücken – wie Irmina im letzten Bild – in den tristen Alltag hinein.

Barbara Yelin: Irmina. Reprodukt,, Berlin 2014. 283 Seiten.

Bild: Brennende Synagoge. Seite 192/193 aus Barbara Yelin: Irmina (mit freundlicher Genehmigung des Reprodukt Verlags).

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François Schuiten: La Douce. Graphic Novel

Wolfgang Krisai: Dampfloks im Eisenbahnmuseum Strasshof bei Wien. Federzeichnung, koloriert, auf farbigem Papier. 1. 9. 2002.Eine umfangreiche Graphic Novel über eine Dampflokomotive. Da musste ich, als ich sie im Shop der „Cité internationale de la bande dessinée“ in Angoulême entdeckte, natürlich zuschlagen.

„Hauptperson“: eine Damplok

„Hauptperson“ ist die stromlinien-verkleidete Dampflok 12.004 der belgischen Eisenbahnen. Ich-Erzähler der Novel ihr Lokführer, Léon Van Bel. Thema: der Untergang der Dampflok-Ära.

Schon auf den ersten Seiten wird man überrascht: Die Lok fährt an Arbeitern vorbei, die an so etwas wie einem Hochspannungsmast arbeiten. Kurz darauf kommt sie zu einer Stelle, wo die Schienen überschwemmt sind. Léon wagt sich dennoch durch. Es regnet.

Der Untergang des Dampflok-Zeitalters

Bald kommt man drauf, dass der „Untergang“ hier wörtlich genommen ist, und es sich daher in gewisser Weise um eine Science-Fiction-Graphic-Novel handelt: Die Welt wird langsam überflutet, und mit ihr die meisten Bahngleise. Die Eisenbahnverwaltung hat sich daher auf den Bau von Überland-Seilschwebebahnen verlegt, deren Seile an den riesigen Masten hängen. Die Dampfloks werden eingezogen und auf gigantischen Schrottplätzen zusammen mit Millionen von Autos abgestellt. Diese Plätze versinken ebenfalls nach und nach im Wasser.

Léon will seine 12er retten. Sie ist seine „Süße“, seine Geliebte. Nettes Wortspiel: 12 heißt auf Französisch douze, douce heißt süß. Zunächst will er sie gemeinsam mit befreundeten Eisenbahnern in einem großen Schuppen verstecken. Das funktioniert nicht lange. Man kommt ihm auf die Schliche, die Lok wird abtransportiert, er selbst für eine Weile eingesperrt.

Gemeinsame Sache mit einer schönen Diebin

Bereits zuvor erwischen die Eisenbahner eine der immer häufiger auftauchenden Metall-Diebinnen, ein fesches junges Mädchen namens Elya. Schon wollen sich die erbosten Männer an ihr vergreifen, da rettet sie Léon. Diese junge Frau spielt im zweiten Teil der Geschichte eine große Rolle, denn als Léon eine der Seilbahnkabinen kapert, um sich auf den Weg zum Eisenbahn-Schrottplatz zu machen, springt sie plötzlich ebenfalls in die Kabine. Nach einer kurzen Phase des Zusammenstreitens machen sie gemeinsame Sache: Beide wollen ja zum Schrottplatz.

Die Seilbahn fährt über Wälder und Städte. Lange. Unbemerkt. Léon träumt von der 12er und wie er sie rettet.

Schließlich erreichen sie eine Stadt in der Nähe des Schrottplatzes, machen einen Typ ausfindig, der weiß, wie man hinkommt. Gemeinsam gehen sie über Bretterstege, fahren mit einer ausrangierten Hochbahn und gelangen schließlich wirklich zum Schrottplatz. Autos, Autos, Autos – aber keine Lokomotive.

Erst ganz weit hinten sehen sie eine Lokomotive noch an Land stehen, nicht die 12er, aber an der Lok hängt ein ganzer Zug, der bis unter die Wasseroberfläche reicht. Léon hofft, dass sich dahinter im Wasser seine 12er befindet, sie heizen die Lok an, fahren los – aber es funktioniert nicht. Schon will Léon aufgeben. Der Führer und Elya setzen sich ab.

Doch plötzlich faucht die 12er heran, grün gestrichen, mit goldenem Zierstreifen. (Ab hier ist die Lok farbig; der gesamte Rest des Buches besteht aus schwarzweißen Federzeichnungen.) Wer ist im Führerstand? Elya! Léon springt auf, sie fahren ins Ungewisse davon.

Es folgt ein Anhang mit Informationen zur und einigen Abbildungen der 12er, der Parade-Lok der belgischen Dampflokzeit.

Truffaut-Reminiszenzen

Entfernt erinnert die Stimmung des Buches an Truffauts Film „Fahrenheit 425“, wo ebenfalls eine Hochbahn eine Rolle spielt. Wo die Menschen ebenfalls irgendwie anders ticken, wo es andererseits auch wieder Außenseiter gibt, die in der streng reglementierten Zukunftswelt ein „alternatives Leben“ leben.

Zeichnerisches Meisterwerk

Diese Graphic Novel vom „Untergang“ der Dampflokzeit ist ein zeichnerisches Meisterwerk. Die Panels sind sehr abwechslungsreich gestaltet: Schuiten benützt alle möglichen Ausschnitte, die suggestive Wirkung der schwarzen und weißen Flächen und setzt die lautmalerischen Wirkung der Schrift geschickt und sparsam ein. Das ganze Werk ist in realistischen Stil mit unglaublicher Liebe zum Detail bei gleichzeitiger Fähigkeit zur großzügigen Abstraktion gestaltet. Schuiten ist eben ein Meister seines Fachs.

Ausgaben und Informationen

Übrigens gibt es zwei verschiedene französischsprachige Ausgaben der Graphic Novel: eine Normalausgabe im Format A4 hoch, eine Luxusausgabe im Format A4 quer, wo die A4-Seiten auf je zwei A4-Querformat-Seiten vergrößert und aufgeteilt sind.

Die deutsche Ausgabe ist 2012 unter dem Titel „Atlantic 12“ im Verlag Schreiber & Leser erschienen.

Eine eigene Website widmet sich dem 12.004-Projekt.

Es gibt außerdem einen Wikipedia-Artikel zur Reihe 12.

François Schuiten: La Douce. Casterman, 2012. Ca. 180 Seiten, A4, Querformat.

Bild: Wolfgang Krisai: Die Dampfloks 197.301 und 310.23 im Eisenbahnmuseum Strasshof bei Wien. Federzeichnung, koloriert, auf farbigem Papier. 1. 9. 2002. – Die belgische 12.004 sieht völlig anders aus. Wer weiß, vielleicht kann ich sie einmal im Belgischen Eisenbahnmuseum in Schaerbeek besichtigen und zeichnen…

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Olivier Kugler: Mit dem Elefantendoktor in Laos

Wolfgang Krisai: Skizze nach dem Buch-Cover.In Laos gibt es sie noch: die Arbeitselefanten. Und ihre geradezu symbiotisch mit ihnen lebenden Elefantenführer, die Mahut. Sie werden zum Beispiel eingesetzt, um aus den Wäldern die gefällten Baumstämme herauszutragen oder zu -ziehen. Da kann es schon einmal zu Verletzungen kommen, und dann kommen die Elefantendoktoren ins Spiel. Sie gehören der französischen NGO „ElefantAsia“ an, die sich um die Gesundheit und Arterhaltung der asiatischen Elefanten kümmert. Der deutsche Illustrator Olivier Kugler kann mit einem von ihnen in den Dschungel im Norden von Laos fahren, um die Arbeit der Tierärzte zu zeichnen.

Ein Comic ohne Sprechblasen und Panels

Herausgekommen ist eine Art Comicbuch, das aber wenig Ähnlichkeit mit üblichen Comics hat. Da gibt es keine Panels, keine Sprechblasen, sondern frei auf dem Blatt verteilte Zeichnungen und handgeletterte Texte, alles am Computer mit ebenso frei abstrahierten Farbflächen hinterlegt: eine Augenweide.

Gefährdungen

Und ein faszinierender Einblick in eine Angelegenheit, von der ich bisher schlicht nichts wusste. Man erfährt nicht nur, wie die Tierärzte und die Elefantenführer dort arbeiten, sondern wesentlich mehr, denn die Situation der Elefanten wird von modernen Entwicklungen wie der zunehmenden Abholzung der Wälder, dem Kohletagebau für thailändische Kohlekraftwerke und anderer wirtschaftlicher Faktoren bedroht. Wenn kein Wald mehr da ist, sind auch keine Baumstämme mehr herauszuschleppen. Für einige wenige Elefanten bliebe dann noch der Tourismus als Arbeitsmöglichkeit: Immerhin lässt es sich auf dem Rücken eines Elefanten gut reiten.

Die Mahut wiederum haben ein Nachwuchsproblem, da auch in Laos für die jungen Menschen die Arbeit in den Ballungszentren interessanter ist als unter einfachsten Bedingungen irgendwo im Dschungel. Das Knowhow der Mahut droht damit auszusterben, denn den Umgang mit Elefanten lernt jeweils der Sohn vom Vater.

Bomben

Nebenbei fließen auch geschichtliche Informationen mit ein. Wer weiß schon, dass auf Laos im Zuge des Vietnamkriegs mehr amerikanische Bomben niedergegangen sind als auf Deutschland während des Zweiten Weltkriegs?! Und rund ein Drittel der Bomben „schläft“ als Blindgänger noch im Boden des Landes.

Trotz dieser vielen betrüblichen Aspekte: ein wunderbares Buch!

Olivier Kugler: Mit dem Elefantendoktor in Laos. Edition Moderne, Zürich 2014. 48 Seiten, farbig, 20 x 30 cm, Hardcover.

Bild: Wolfgang Krisai: Skizze nach dem Umschlagbild von Olivier Kugler: Mit dem Elefantendoktor in Laos. 12. 12. 2014.

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Alfonso Zapico: James Joyce. Graphic Novel

Wolfgang Krisai: Landschaft im County Claire, Irland. Aquarellierte Federzeichnung. 1981.Kaum hatte ich Joyces „Ulysses“ beendet, entdeckte ich diese Graphic Novel über den Autor des Riesenromans. Sie war eine angenehme Ergänzung und Horizonterweiterung. Mangels genauerer Joyce-Kenntnis kann ich zwar nicht beurteilen, ob das Bild, das der spanische Comiczeichner von Joyce „zeichnet“, literaturwissenschaftlicher Beurteilung standhalten würde, aber immerhin passt es sehr gut zu dem, wie ich mir gewissen Grundzüge des Autors des „Ulysses“ vorgestellt habe.

Joyce ist nach Zapico ein dem Alkohol ergebener Zyniker und Freigeist, der zeitlebens in Opposition zur katholischen Kirche stand und das Leben eines Bohemiens führte. Da er in Irland den Bogen überspannt hatte, sah er sich gezwungen, ins Ausland zu gehen: nach Triest, Paris und Zürich (wo er starb und begraben liegt). Überall fand er Freunde, verlor sie aber auch bald wieder, weil er ein Egoist reinsten Wassers war, der nur sich selbst gelten ließ, an anderen aber unbarmherzig deren Schwächen geißelte. Einzig seine Geliebte und spätere Frau Nora Barnacle, als er sie kennenlernte, ein einfaches Zimmermädchen in einem Dubliner Hotel, arrangierte sich mit dieser Situation, vielleicht, weil sie für Joyce als geistiger Partner ohnehin nicht in Frage kam.

Neben seinem Lotterleben arbeitet Joyce auch eisern an seinen Werken, obwohl es jeweils ein steiniger Weg bis zu ihrer Veröffentlichung war. Gegenüber der literarischen Öffentlichkeit ging er natürlich ebensowenig Kompromisse ein wie gegenüber seinen Freunden. Kein Wunder, dass sein letztes Werk, „Finnegan’s Wake“, wohl einer der wenigstgelesenen und noch weniger verstandenen Romane der Weltliteratur geworden ist.

Zapico zeichnet dies alles – übrigens in Grautönen, nicht in Farbe –  in einem Stil, der zwischen Realismus und Knollennasencomicstil angesiedelt ist. Das mag verniedlichend wirken, aber es ist erheiternd, auch wenn die dargestellten Personen von Wutwolken umwölkt sind, betrunken durch die Nacht torkeln oder irgendwo in die Ecke kotzen. Einen interessanten Eindruck von einem der großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts bekommt man jedenfalls.

Alfonso Zapico: James Joyce. Porträt eines Dubliners. Egmont Graphic Novel im Egmont Verlag, Köln, 2014. 224 Seiten.

Bild: Noch ein Bild von meiner Irlandreise 1981: Landschaft im County Claire, Irland. Aquarellierte Federzeichnung.

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Margaux Motin: La tectonique des plaques

Junge, urbane, moderne Frauen gibt's nicht nur bei Margaux Motin, sondern auch bei Starbuck's in Wien. Skizze von 2012.

Junge, urbane, moderne Frauen gibt’s nicht nur bei Margaux Motin, sondern auch bei Starbuck’s in Wien. Skizze von 2012.

Als wir auf unserer letzten Frankreichreise vergangenen Sommer in Forbach bei Saarbrücken eine Mittagspause einlegten, gerieten wir in eine gute Buchhandlung, wo mir ein Comic-Buch wegen seines Covers ins Auge stach: Auf weißem Grund schwebt eine fast nackte junge Frau, die sich ganz begeistert den Körper bemalt, sodass sie über und über tätowiert erscheint. Die Autorin und Zeichnerin: Margaux Motin. Den Namen kannte ich doch? Tatsächlich, ich habe von ihr „Ich wäre so gerne Ethnologin…“ (siehe Eintrag vom 12. 12. 12). Schon dieses Comic hatte mir sehr gefallen, also musste das neue ebenfalls gekauft werden.

Und es hat mich nicht enttäuscht.

Das Buch ist eine ideale Nachtkästchenlektüre, denn es besteht aus vielen kurzen „Storys“, die ein bis zehn Seiten lang sind (die kurzen überwiegen bei weitem). Die Geschichten erzählen vom Alltag einer vierunddreißigjährigen alleinerziehenden Mutter einer kleinen Tochter. Einige Hinweise machen klar, dass es sich um Margaux Motin selbst handelt. (Wie weit diese Geschichten autobiographisch sind, kann ich aber nicht beurteilen.) Es gibt auch einen Liebhaber, der im Leben der jungen Frau allerdings eine noch untergeordnetere Rolle als das Töchterlein spielt. In erster Linie geht’s nämlich um die Befindlichkeit der Hauptperson, die sozusagen eine exemplarische Vertreterin der jungen, urbanen, modernen Frau ist: hin und her gerissen zwischen Gefühlen, Ansprüchen, Sehnsüchten, Problemen, Wünschen, Verpflichtungen, Lüsten und Plagen.

Sie sieht prototypisch aus:

Ihre schlanke Figur steckt, wenn überhaupt, entweder in hautengen Jeans oder in Shorts (jenem Modewunder, das sich jetzt schon sechs Jahre unverminderter Popularität erfreut), dazu in irgendeinem schlappen Oberteil, das halb von der Schulter hängt. Lange Haare, in verschiedenster Weise zusammengebündelt oder zerstrubelt. Sportschuhe oder High Heels.

Sie spricht prototypisch:

den Slang der jungen, urbanen… (siehe oben). Da ich das französische Original las (deutsche Übersetzung gibt es vorläufig noch keine, aber vielleicht arbeitet der Carlsen-Verlag schon daran), hatte ich Gelegenheit, eine Fülle neuer Schimpfwörter kennenzulernen, deren Sinn manchmal nicht einmal meine im modernen Alltagsfranzösisch äußerst beschlagene Frau entschlüsseln konnte. Der Großteil aber war verständlich und sorgte für Heiterkeit, weil diese Sprache ungemein treffend ist. Ständig hat man das Gefühl: Ja, genau so sagt so jemand das!

Sie denkt und fühlt prototypisch:

Immer auf der Suche nach dem – momentanen – Glück, versucht sie ihre disparaten Lebensbereiche unter einen Hut zu bekommen. Man ist zwar eine halbwegs fürsorgliche Mutter, wäre aber gerne ein attraktiver Single (deshalb kauft man – fast – ein T-Shirt für die Tochter, mit der Aufschrift „If you think I’m a Bitch, wait until you meet my mother“). Der Jugendlichkeitswahn der Mutter kommt manchmal sogar der Tochter bedenklich vor: „Mama … ? Muss ich dir wirklich ähnlich sein, wenn ich groß bin, oder kann ich dann auch normal sein?“ (So die Tochter, als sie der Mutter beim Zumba zusieht.)

Man sollte zwar arbeiten (die Heldin ist ja Comiczeichnerin und arbeitet zu Hause am Mac), hätte aber lieber Freizeit (weshalb man sich um 9 zur Arbeit an den Computer setzt, feststellt, dass es schon 9.01 ist, eine Zeit, zu der man nicht zu arbeiten beginnen kann, weshalb man den Arbeitsbeginn auf 10 verschiebt). Überhaupt diese Heimarbeit, die verfolgt einen bis aufs stille Örtchen (weil man ja sein iPhone immer griffbereit hat).

Die Männer, konkret: dein Freund, erweisen sich auch nicht immer als der Traumtyp. (Was zum Beispiel liest er in einem deiner ausrangierten „Glamour“-Hefte? Einen Bericht über eine junge Hure. Deine Reaktion: „Putain! Tu respectes vraiment rien! Mer-deuh!!“ Und er, nachdem du ihm einen Vortrag über die Würde der Frau gehalten hast: „Was regst du dich so auf?? Du hast wohl deine Tage, oder?“) Oft sind es auch Lächerlichkeiten, die einen schönen Abend vereiteln (da ist ein fantastisches Vorspiel in Gang gekommen, und als es konkret wird, verheddert man sich so sehr in den engen Klamotten, dass nicht einmal ER sie einem vom Leib reißen kann).

Natürlich ist man permanent online. iMac, MacBook, iPad und iPhone sind daher allgegenwärtig. Töchterlein wird zum Beispiel in der Schule gefragt, was die Mama so macht, und sagt: „Meine Mama zeichnet suuperschöne Zeichnungen…“ – „Und weiter?“ – „Außerdem ist sie auf Facebook. Und sonst trinkt sie Wein.“ (Peinlich, peinlich. Manchmal, denkt unsere Heldin, wäre es besser, wenn sie ihr kleines Maul halten würde.)

Auch Freundinnen hat man (à la „Desperate Housewives“ – diese Serie kommt tatsächlich vor), die gelegentlich getröstet werden wollen, wenn ihre Beziehungsprobleme überhand nehmen. Und umgekehrt („Ha bah voilà! Er hat mich bei Skype und Facebook geblockt! Jetzt kann ich ihm nicht einmal mehr nachspionieren. Super!“). Aber auch aus der tiefsten Krise kommt man irgendwann mal wieder heraus. Zum Beispiel, indem man das dämliche T-Shirt, das er einem geschenkt hat, endlich beseitigt und ein neues, rein weißes anzieht, ans Fenster tritt, sich mit der Freundin hinauslehnt und sagt: „Weißt du, was ich heute am liebsten täte? – – Leben.“ (Das unter dem Stichwort „Resilienz“. Man sieht, Margaux Motin katapultiert uns ganz an die Spitze des aktuellen Sprachgebrauchs.)

Ein neues Ich wäre schön

Wenn man 34 ist, hätte man schon gelegentlich gern ein neues Ich. Etwa, wenn man in der Umkleidekabine beim Bikini-Anprobieren die Panik vor diesem weißen Gespenst im Spiegel bekommt: „Ich muss mir meinen Körper amputieren lassen!! Jedenfalls müssen diese kalten Neonleuchten in den Kabinen augenblicklich verboten werden.“ Daher also: Fitness (auch wenn man nach zweieinhalb Minuten halbtot vom Hometrainer kippt). Und: Gelassenheit (auch wenn die Kaffeemaschine ewig braucht, man beim Telefonieren in der Warteschleife landet, am Bildschirm das berüchtigte „Windradl“ sich nicht zu drehen aufhört: dennoch: „Namasté.“).

Man beschließt außerdem, es mit östlichen Heilslehren zu versuchen, und begibt sich in die Hände einer kundigen Asiatin. Hier nun erfährt die Leserin bzw. der Leser endlich, was es mit dem seltsamen Buchtitel auf sich hat: Die Asiatin befragt Margaux, wo sie der Schuh drückt. Hier… Aha. Und da… Kein Wunder. Körperteil für Körperteil wird durchgegangen – und während des Gesprächs „erblüht“ er voller schöner bunter „Tattoos“ (wie auf dem Titelbild), dabei fühlt Margaux sich immer seltsamer, als würde sich in ihrem Inneren alles bewegen. Zen-Trainerin: „Jaaa, jaaa, das sind die inneren Kontinente, die sich verändern!“ Margaux: „So, als würde sich die innere Landkarte verändern? Wie bei der Plattentektonik?“ – „Exakt. Wie bei der Plattentektonik.“

Stil

Wie ist das Ganze gezeichnet? In einem ganz unaufgeregten, klaren Stil, mit perfekter „Körperbeherrschung“, ein bisschen mangahaft riesigen Augen, hundertprozentig getroffener Mimik und sparsamem, aber genau passendem Einsatz von Farbe. Motin verzichtet auf die Umrahmung der einzelnen „Kader“, sodass sich die ProtagonistInnen im weißen Raum bewegen, manchmal mit sparsam angedeuteten Gegenständen oder Möbeln. Oder einfach nur mit einem dezenten Farbfleck als Stimmungssignal. Eine Meisterin ihres Fachs. Wer Beispiele sehen will, sei auf den Blog der Künstlerin verwiesen.

Margaux Motin: La tectonique des plaques. Guy Delcourt Productions, 2013. Ohne Seitenzahlen (ca. 300 Seiten).

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