Archiv der Kategorie: Lyrik

Martialis, M. V.: Römischer Witz. Ausgewählte Epigramme

Bild: Wolfgang Krisai nach Lucas Cranach d. Ä: "Ungleiches Paar" von 1531, Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste, Wien; Tuschestift, 2017.

In unserer Schulbibliothek fand dieses kleine, alte Bändchen keine Leser*innen und es wurde ausgeschieden. Einst hatte es ein ehemaliger Lateinlehrer gespendet, als er in seiner Bibliothek ausmisten musste. Ich nahm es mit und bewahrte es damit vor dem Altpapiercontainer. Wäre auch wirklich schade darum gewesen, aus mehreren Gründen.

Menschlich-Allzumenschliches aufs Korn genommen

Erstens der Gedichte wegen, die wirklich unterhaltsam sind und allerlei Menschlich-Allzumenschliches aus der römischen Kaiserzeit (Martial lebte von ca. 40-104 n. Chr.) aufs Korn nehmen. Viele der Laster und Schwächen von damals gibt es auch heute noch, Kleingeisterei aller Art, Schnorrertum, Egoismus, Herabsetzen des anderen, Kunst-Unverständnis zum Beispiel. Martial ärgert sich über den Rummel der Großstadt, wo man sich nicht ausschlafen kann, weil auf der Straße so ein Lärm ist; er verflucht die ihm verhasste Sitte des Abbusserlns unter miteinander kaum bekannten Männern, deren Lippen und Wangen nicht immer frisch gepflegt sind; er sehnt sich nach seinem heimatlichen Spanien (er wurde in Bilbilis, dem heutigen Bilbao, geboren), freut sich über sein kleines Landgut vor den Toren Roms, das ihm ein Mäzen geschenkt hat, andererseits ärgert er sich aber auch wieder über Mäzene, die alljährliche Zuwendungen plötzlich lieber einer neuen Geliebten zuwenden statt dem Dichter, der jedoch von solchen Wohltaten leben muss.

Das kurze Nachwort belehrt den Leser, Martial sei bis in die letzten Winkel des römischen Weltreichs bekannt gewesen, trotzdem aber nicht von seinen Dichtungen reich geworden. Seine letzten 6 Lebensjahre verbrachte er tatsächlich wieder im heimatlichen Spanien.

Witzige, sehr freie Übertragung

Zweitens der witzigen Übersetzung wegen: Übersetzer Hermann Swoboda erklärt seine Auffassung im Nachwort: Martials Epigramme hätten einst durch ihren sprühenden Witz und ihre Pointen gewirkt, aber auch durch ihre eingängige poetische Form. Wollte man nun diese Form getreu ins Deutsche übertragen, kämen umständliche Gedichte heraus und der Witz bliebe auf der Strecke. Daher erlaubte sich Swoboda eine von der ursprünglichen Form völlig unabhängige Umsetzung in eine moderne, flotte, witzige Gedichtform mit kurzen, gereimten Versen.

Hier ein Kostprobe: „An den Leser

Den ihr da lest, der Dichter eurer Wahl,

Das ist er, der gewisse Martial,

Den alle Welt, bis an das fernste End‘,

Als witz’gen Epigrammverfasser kennt.

Was er durch euch an Ruhm empfing im Leben,

Wird wenig Dichtern nach dem Tod gegeben.“

Nachforschungen im Internet ergaben, dass Hermann Swoboda, 1873-1963, ein Wiener Psychologe und Universitätsdozent war und zum Biorhythmus des Menschen forschte. Also kein Literat! Allerdings verfasste er untem Pseudonym Arminius Libertus (Swoboda heißt Freiheit auf Deutsch) eigene Epigramme, die er in einem Sammelband veröffentlichte.

Drittens der Provenienz wegen: Mein Bändchen hat Swoboda persönlich einer Frau Lucia Jirgal gewidmet und geschenkt, und zwar am 23. 12. 1950, also noch vor dem offiziellen Erscheinungsjahr, mit Dank für „die Mitwirkung“. Lucia Jirgal (1914-2007) war eine österreichische Malerin, die offenbar vor allem Glasfenster in Kirchen gestaltete. 

Und nun ist dieses Bändchen bei mir gelandet. Habent sua fata libelli!

Martialis, Marcus Valerius: Römischer Witz. Ausgwählte Epigramme des M. V. Martialis. Übertragen von Hermann Swoboda. Margarete Friedrich Rohrer Verlag, Innsbruck – Wien, 1951. 143 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai nach Lucas Cranach d. Ä: „Ungleiches Paar“ von 1531, Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste, Wien; Tuschestift, 2017. – Das ist zwar keine Illustration zu einem Martial-Gedicht, aber ein Gemälde, das ebenfalls Menschlich-Allzumenschliches aufs Korn nimmt.

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Labé, Louise: Torheit und Liebe

Bild: Wolfgang Krisai: Lesende Frau. Kohle. 2020.

Gestern gekauft, heute schon gelesen: Louise Labé: „Torheit und Liebe“. Das ist der erste Band der Reihe „Femmes de lettres“ aus dem Secession-Verlag.

Louise Labé war mir ein Begriff, da Rilke Sonette dieser Renaissance-Dichterin übertragen hat. Es ist interessant, diese Übertragungen mit den Übersetzungen des vorliegenden Bandes zu vergleichen: Rilke überträgt sehr frei und „rilkeisch“, dennoch trifft er den Sinn der Gedichte sehr gut, die Übersetzerin des neuen Bandes, Monika Fahrenbach-Wachendorff, orientiert sich bewusst nicht an Rilke, sondern übersetzt viel wörtlicher, schafft es aber trotzdem, Verse und Reime in überzeugender Form zustande zu bringen. Beide Versionen haben also etwas für sich.

Frauen, nützt die Möglichkeiten der neuen Zeit

Der Band beginnt mit einem „Widmungsbrief“, in dem die Autorin die Frauen dazu aufruft, die Möglichkeiten der neuen Zeit dazu zu nützen, in Wissenschaft und Kunst hervorzutreten und nicht nur die Rolle der Hausfrau und Mutter zu übernehmen.

Torheit und Liebe im Streit

Das erste Werk ist dann ein Streitgespräch zwischen Folie und Amor. Allerdings geht der Text weit darüber hinaus, da nur der Anfang ein Streitgespräch zwischen den beiden genannten Kontrahenten ist, an das sich dann ein ganzes Gerichtsverfahren vor Zeus anschließt.

Der französische Originaltitel heißt „Débat de Folie et d’Amour“. Für den Franzosen ist völlig klar, dass es hier um ein Streitgespräch zwischen „Torheit“ und „Liebe bzw. Amor“ geht. Während also im Französischen „Folie“ eindeutig ist (das nicht übersetzte Wort „Folie“ im Deutschen hingegen nur dem Französischkundigen etwas sagt), ist „Amour“ mehrdeutiger als die Übersetzung „Amor“.

Das ist aber auch das Einzige, was vielleicht nicht ganz gelungen ist. Der Text selbst liest sich dann sehr flüssig und lebendig. 

Amor und Folie wollen durch die Tür in einen Festsaal eintreten, wohin sie als Gäste des Zeus geladen sind. Folie drängt sich vor, Amor stellt sie zur Rede, ja, schießt dann einen seiner Pfeile auf sie, die sich augenblicklich unsichtbar macht und sich dann an Amor rächt, indem die ihm die Augen auskratzt. Statt dass dieser sich vor Schmerzen krümmt, diskutiert er weiter mit Folie, die ihm daraufhin noch einen Verband über die Augen bindet, den man nie wieder abnehmen kann, weil es ein von den Parzen verzaubertes Band ist.

Da ruft der arme Amor Zeus an, damit ihm Gerechtigkeit widerfahre und Folie aus dem Götterhimmel verbannt werde. Auch seine Mutter Venus ist ganz auf seiner Seite.

Dann bleibt die Liebe spannend

Schließlich kommt es zum Gerichtsverfahren. Amor wird auf seinen Wunsch von Apoll verteidigt, der eine lange Rede hält, Folie lässt sich von Merkur verteidigen, der eine noch längere Rede hält. Apoll sagt: Wenn Amor seine Pfeile gezielt verschießen könne, dann werde durch die damit hergestellten Liebesbeziehungen im Endeffekt eine bessere Gesellschaft ermöglicht. Merkur hingegen plädiert für die Bedeutung der „Torheit“ in der Liebe: Liebe treffe nun einmal die ungleichsten Paare, doch gerade darin liege der Reiz, dass nicht immer alles glatt geht, sondern die Liebe spannend bleibt. Damit bewirke die „Torheit“ mehr als die noch so wohlgezielten Liebespfeile eines sehenden Amor. 

Zeus kann sich nicht entscheiden und vertagt das Urteil auf den Sankt Nimmerleinstag. Bis dahin solle Folie dazu verpflichtet sein, den blinden Amor zu führen.

Beim Lesen ist mir sehr bald aufgefallen, dass man es hier mit einem Pendant zu Erasmus von Rotterdams „Lob der Torheit“ zu tun hat, denn auch hier wird der Torheit das Wort geredet.

24 Sonnette

Nach diesem Hauptwerk der Dichterin folgen drei Elegien und 24 Sonette (jene, die Rilke einst übertragen hat). In allen diesen Gedichten geht es um die Leiden einer vor Sehnsucht fast vergehenden Liebenden, deren Geliebter in der Fremde ist und sich nicht meldet. Die Situation kann man sich sehr gut vorstellen, auch wie man halb wahnsinnig wird, wenn sich der Geliebte nicht und nicht melden will. Ist er vielleicht schon untreu? Das kann nicht sein, wo die Liebende doch so viele Gebete für ihn zu Gott geschickt hat.

Man darf, betont das Nachwort von Labé-Expertin Elisabeth Schulze-Witzenrath, nicht auf den Irrtum verfallen, das „Ich“ der Gedichte für die Autorin selbst zu halten und die Gedichte damit autobiographisch aufzufassen. Louise Labé war mit einem eher prosaischen, deutlich älteren Mann verheiratet. Sehnsüchtige Liebesgedichte aber gehörten zur Konvention der Zeit, sie sind Rollenlyrik, nicht Ausdruck eigenen Unglücks.

Louise Labé wurde als Tochter eines Seilers 1520 oder 1522 in Lyon geboren, begann schon in jungen Jahren zu schreiben, veröffentlichte ihre Werke 1555 (Datum des Widmungsbriefs) und trat bis zu ihrem Tod 1566 nicht weiter literarisch hervor.

Reihe „Femmes de lettres“

Die Idee des Secession-Verlags, eine Reihe mit Werken von „Autorinnen im Europa des 16. bis 18. Jahrhunderts“ herauszubringen, finde ich sehr gut. Es wird ja Zeit, dass die Männerlastigkeit der Literaturgeschichte zumindest ein klein wenig ausgeglichen wird. Es gibt sie nämlich sogar in der Zeit von der Renaissance bis zur Aufklärung, die schreibenden Frauen, man hat sie nur bisher totgeschwiegen.

Die Reihe ist sehr ansprechend und gediegen gestaltet: dunkelblaue Leinenbändchen mit Fadenheftung und Lesebändchen im gewohnten Secession-Format.

Labé, Louise: Torheit und Liebe. Die Werke der Louise Labé. Aus dem Mittelfranzösischen übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorff. Mit einem Nachwort von Elisabeth Schulze-Witzenrath. Secession-Verlag, Zürich, 2019. Bd. 1 der Reihe „Femmes de lettres“. 

Bild: Wolfgang Krisai: Lesende Frau. Kohle. 2020.

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Franz Hohler: Alt? Gedichte

Wolfgang Krisai: Leser in der Wiener Städtischen Bücherei. Bleistiftskizze, 2015.

Ich muss vorausschicken: Ich habe schon einige Bücher Franz Hohlers mit großem Genuss gelesen (und hier und hier rezensiert) und ihn selbst einmal bei einer Lesung erlebt, wo er – verdientermaßen – den größten Applaus geerntet hat, den ich je bei einer Autorenlesung erlebt habe.

Vor einiger Zeit kam mir sein Buch „Alt? Gedichte“ in einer großen Wiener Buchhandlung unter. Ich las den Anfang des ersten Gedichts, in dem es, wie der Titel schon ankündigt, ums Alt-Sein geht, und schreckte zurück.

Offenbar ging es anderen Leuten auch so, denn vor ein paar Tagen fand ich das Buch in derselben Buchhandlung im Flohmarkt-Kistl. Diesmal nahm ich es. Und las es sofort. Stellte dabei fest, dass nur das erste Gedicht ausschließlich vom Alt-Werden handelt, während die anderen zwar auch die Lebenssituation eines älteren Menschen reflektieren, aber immer um irgendwelche interessanten Themen abseits vom bloßen Alt-Werden kreisen. Zum Beispiel um öffentliche Verkehrsmittel, um ökologische Fragen – oder es sind gar Übersetzungen bekannter Gedichte ins Schwyzerdytsch, was für den Nicht-Schweizer wahrscheinlich noch amüsanter ist als für den, der diese Sprache spricht.

Viele der Gedichte sind von leisem Humor durchzogen, einige wirklich lustig. Späte Erkenntnis also: ein lesenswerter Band.

Franz Hohler: Alt? Gedichte. Luchterhand-Literaturverlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München, 2017. 90 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Leser in der Wiener Städtischen Bücherei. Bleistiftskizze, 2015.

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Michael Krüger: Umstellung der Zeit. Gedichte

Wolfgang Krisai: Michael Krüger liest in der Alten Schmiede aus "Umstellung der Zeit". Feder-Skizze, 2015.Im Literarischen Quartier der Alten Schmiede in Wien war wieder einmal Michael Krüger zu Gast. Er stellte die Gedichte des Österreichischen Autors Albert Drach vor und las in einer zweiten Veranstaltung aus seinem neuesten Gedichtband „Umstellung der Zeit“, der allerdings auch schon vor zwei Jahren erschienen ist und jetzt, man staune, bereits in der dritten Auflage vorliegt.

Krüger schreibt eigentlich eine rhythmisierte Prosa, die in Kurzzeilen gesetzt ist. Inhaltlich dreht es sich bei diesen Gedichten häufig um die Natur, wie Krüger sie im Umfeld seines Hauses am Starnberger See erleben kann. Zum Beispiel:

„Ein spitzbübischer Wind / schaukelt in den Vorhängen, / ein anderer liest mein Buch / in rasender Eile.“ (S. 12) So etwas ist schön beobachtet und knapp in Worte gefasst.

Aber wäre es nicht gescheiter, angesichts der Welt zu schweigen? „Ich könnte von Kriegen erzählen, / von Göttern, die sich aus Langeweile / das Leben ausdachten, von Igeln / […] / Aber lieber die Klappe halten, / die Stille ist laut genug.“ (S. 30).

Das Problem ist, dass die Erkenntnis oft ein Rätsel ist: „Wie ich so stehe, / gibt mir das Meer / ein Licht, / das mich entzündet, und mit den Füßen / lese ich / die Blindenschrift der Kiesel.“ (S. 40) Da spürt man förmlich das Stechen der Steinchen in der Fußsohle. Als Botschaft der Natur oder des Meeres hat man es bisher freilich noch nicht aufgefasst.

Während die Natur positiv erlebt wird, ist die Technik eher negativ besetzt: „trübselige Autos, / die sich durch den Tag schleppen / wie Kamele auf Wanderschaft“. (S. 47) Und es ist wahr: diese langsam sich im Stau dahinschiebenden Buckel der Autodächer…

Ein Gedicht ist einem Besuch bei Botho Strauß in der Uckermark gewidmet, ein anderes einem Flug nach New York. Ein anderes schildert Flughafenatmosphäre, wo nichts recht funktionieren will. Ein Besuch in Istanbul.

Dann wieder ein Aufblitzen von Erkenntnis: „Es braucht hoffnungslos lange, bis man / so ungefähr ahnt, wer man ist.“ (S. 85) Das kann ich nur unterschrieben. Die Erkenntnis kann sich auch auf die ganze Menschheit beziehen: „Keiner erinnert sich, warum / wir so geworden sind, / wie wir sind. / Aber wir sind noch da, / wir haben uns nur kurz / aus den Augen verloren.“ (S. 92, in einem Gedicht über „Neujahr 2012“). Ja, und auch „von Gott ist nicht viel / zu sehen bei diesem Licht“. Das schreibt Krüger „Bei Boston, am Meer“, so der Titel des Gedichts (S. 105).

Man merkt: Mich begeistern mehr die originellen Formulierungen und der überraschende Blick, mit dem kleine Erlebnisse einen ungewöhnlichen Touch bekommen, als die Form dieser Gedichte. Michael Krüger seine Gedichte selbst vortragen zu hören – und seine manches noch zusätzlich erhellenden Kommentare dazu – ist darüber hinaus ein besonderer Genuss. Wer nicht in der Alten Schmiede sein konnte, hat zu Anfang eines längeren Interviews mit Denis Scheck Gelegenheit, Michael Krüger HIER beim Vorlesen eines der Gedichte aus dem Band zu erleben.

Michael Krüger: Umstellung der Zeit. Gedichte. 3. Aufl., Frankfurt, Suhrkamp, 2014. 117 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Michael Krüger liest in der Alten Schmiede aus „Umstellung der Zeit“. Feder-Skizze, 2015.

Übrigens ist sehens-, vor allem aber hörenswert, was Krüger, als er noch Hanser-Chef war, zu allerlei Themen im Zusammenhang mit Literatur zu sagen hat, und zwar auf dem youtube-Kanal des Hanser-Verlags unter „Michael Krüger spricht…“.

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Dezember. Gedichte

Wolfgang Krisai: Baum im winterlichen Schlosspark Laxenburg. Ölkreide.Mit folgendem Gedicht aus der Reclam-Anthologie „Dezember“ wünsche ich allen meinen Leserinnen und Lesern ein Gutes Neues Jahr!

Erich Kästner

Spruch für die Silvesternacht

Man soll das Jahr nicht mit Programmen

beladen wie ein krankes Pferd.

Wenn man es allzu sehr beschwert,

bricht es zu guter Letzt zusammen.

Je üppiger die Pläne blühen,

um so verzwickter wird die Tat.

Man nimmt sich vor, sich zu bemühen,

und schließlich hat man den Salat!

Es nützt nicht viel, sich rotzuschämen.

Es nützt nichts, und es schadet bloß,

sich tausend Dinge vorzunehmen.

Laßt das Programm! Und bessert euch drauflos!

(S. 73)

Der kleine, mit schönem Einband von Nikolaus Heidelbach gestaltete Gedichtband ist einer von zwölf, die je einem Monat gewidmet sind, und die ich in einer putzigen Kassette zu Weihnachten geschenkt bekommen habe. Als erstes nahm ich mir den Dezember vor. Das ist ja ein besonders „gedicht-trächtiger“ Monat, mit Nikolaus, Weihnachten, Silvester, Schnee, Rauhreif und vielem mehr, was sich poetisch auswerten lässt.

Allerdings mag es für eine Herausgeberin schwer sein, hier noch Neues bieten zu können, gibt es doch vor allem Weihnachts-Anthologien wie Sand am…, nein, Schneeflocken im Gestöber. Den Herausgeberinnen dieses Bändchens, Eveline Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, ist es gelungen, dennoch originelle und interessante Gedichte zu finden.

Besonders angesprochen haben mich Peter Huchels „Dezember“ (S. 27) oder Theodor Fontanes „Weihnachtsbrief“ (S. 36f), den er am 19. Dezember um halb vier Uhr morgens in einem Londoner Café dichtete, als er 1855 fern von der Familie weilte. Eugen Roth kommt mehrmals zu Wort, u. a. mit dem schönen Gedicht „Vor Weihnachten“ (S. 39), wo der Dichter die als Weihnachtsgeschenke gekauften Bücher bei Pfeife, Tabak und nicht wenig Kaffee schnell mal anblättert und bald in einem Gedichtband versinkt…

Weihnachten wird natürlich in zustimmenden bis ablehnenden, in hymnischen bis kritischen Gedichten besungen.

Schließlich kommt Silvester, wo mich z. B. die düstere Feen-Ballade von Annette von Droste-Hülshoff „Silvesterfei“ überrascht hat – durch ihre treffende Sprache:

Der morsche Tag ist eingesunken;

Sein Auge, gläsern, kalt und leer […].

Wie’s draußen schauert! – längs der Wand

Ruschelt das Mäuslein unterm Halme,

Und langsam sprießt des Eises Palme

Am Scheibenrand.

(S.64)

Das letzte Gedicht ist dann das anfangs zitierte von Erich Kästner. Soll ich mir nun vornehmen, die restlichen elf Bände brav Monat für Monat zu lesen?

Dezember. Gedichte. Ausgewählt von Eveline Polt-Heinzl und Christine Schmidjell. Reclam, Stuttgart, 2013. RUB 19122. 80 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Baum im winterlichen Schlosspark Laxenburg. Ölkreide.

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Helmut Krausser: Verstand & Kürzungen. Gedichte

Wolfgang Krisai: Gesine Cukrowksi und Ulrich Mühe in einer Folge von "Der letzte Zeuge". Bleistift. Ca. 2007.Ein Freund schenkte mir dieses Buch zu Weihnachten. Da ich heuer die Geschenke gleich lesen will, schob ich die Lektüre also nicht zugunsten schon länger anstehender Lesevorhaben hinaus – und tat gut daran. Denn einen originelleren und witzigeren Gedichtband als diesen habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Man fragt sich, wie Krausser bisher an mir vorbeigehen konnte.

Der Band besteht aus drei Abschnitten:

  1. neue Gedichte aller Art,
  2. „Coverversionen“, also Abwandlungen, bekannter Gedichte deutschsprachiger und nichtdeutschsprachiger Autoren,
  3. 33 Sonette Shakespeares, im englischen Original und in Kraussers Übersetzung.

Entstaubter Shakespeare

Beginnen wir mit Punkt 3: Kraussers Übersetzungen „entstauben“ Shakespeares Sonette auf perfekte Weise. Ich bin ja sonst kein Fan solcher Reinigungsaktionen, aber Krausser macht es in einer Weise, die mich überzeugt. Meine Lektüre der Sonette in einer klassischen Übersetzung liegt schon so weit zurück, dass ich mich an nichts erinnern kann, außer dass sie keinen nennenswerten Eindruck bei mir hinterlassen haben. Krausser setzt einem aber deftige, ungenierte Kost vor, in fast flapsigem Ton, dabei in souveräner Beherrschung von Reim und Versmaß. Das soll Shakespeare sein?? Man liest gleich daneben im Original nach. Tatsächlich! Da stehen ja, wenn man’s zu lesen weiß, die wildesten Sachen. Das ist ähnlich wie bei Goethe: Man glaubt, der Olympier habe nur erhabene Verse geschmiedet, liest man aber erst mal hinein, dann entdeckt man den pointenstreuenden, erotischen, lockeren Johann Wolfgang. Sollte Krausser mit seiner Shakespeare-Übersetzung mein einziges diesen Großen der Literatur betreffendes Lese-Erlebnis des Jubeljahres 2014 gewesen sein: Das allein ist schon genug an literarischem Profit.

Coverversionen

Ad 2: Krausser „covert“ auf witzige Weise so unterschiedliche Autoren wie William Blake, Catull, Pavese, vor allem aber deutsche Autoren wie Georg Trakl, Rainer Maria Rilke („Der Panther“, natürlich, und „Liebes-Lied“), Brecht, C. F. Meyer („Der römische Brunnen“), Eichendorff, Busch, Goethe, Benn, Heine… Manche der Krausserschen Versionen sind irgendwie kritisch gemeint, andere eine Geste der Verehrung, alle aber originell und witzig. Manche fast reine Übersetzungen, andere ganz freie Neuarrangements.

Überraschen mag, dass Krausser auch Paul Celans „Todesfuge“ aufgenommen hat. Ist es nicht ein Sakrileg, so ein Gedicht auf ein Drittel einzudampfen? Krausser scheint selbst gespürt zu haben, dass dieser Umgang mit fremden Werken erklärungsbedürftig ist, und hat diesem Abschnitt einige Seiten „Anmerkungen“ folgen lassen, wo er z. B. über die „Todesfuge“ schreibt: „Einzig zu befragen ist seine [des Gedichtes] Länge. Gekürzt um alle vielleicht rhetorisch sinnvollen Redundanzen, stellt sich die Frage, ob es in der abgespeckten Version nicht ebenso erfolgreich gewesen sein könnte. Ich glaube, dass dem so ist, endgültig sicher bin ich mir nicht.“ (S. 150)

Kausser himself

Nun zu den eigenen Gedichten Kraussers: Die sind ein wahres Vergnügen. Es sind keine bloßen Kurzprosatextchen in untereinander gedruckten Kurzzeilen, sondern fast alle haben Versmaß und Reim, das ist schon einmal eine sehr positive Sache, zumal Krausser beides witzig und scheinbar völlig locker handhabt. Da wird der Reim zur Pointe und das trotz scheinbarer Schwierigkeiten doch noch eingehaltene Versmaß zum Ahh!-Effekt.

Doch nicht nur der formale Witz überzeugt, sondern auch der inhaltliche. Obwohl immer wieder ernste Sachen abgehandelt werden, geschieht das nie in jenem bedeutungsschweren Ton, der einen sonst oft bei „Lyrik“ nervt.

Auch vom Hermetismus modernen Dichtertums ist Krausser weit entfernt, sodass es mich nicht wundert, dass er in kaum eine meiner nicht gerade wenigen Gedicht-Anthologien, die die Lyrik der Gegenwart in Auswahl vermitteln wollen, aufgenommen ist. Aus der Sicht der Gralshüter der modernen Dichtkunst ist Krausser wohl kein Großer. Egal.

Worum geht’s in den Gedichten? Um die Liebe und ihre Schwierigkeiten, um Literatur, um das Leben, usw.

Beispiele:

Wie es einem Autor nach vollbrachter Dichterlesung geht (S. 50):

lange schangen schlanker blondinen blockierten den gang

vor meiner penthousesuite im besten hotel von paris,

entrückt und verzaubert von meiner verse ätherischem klang –

nett – doch mühsam und wohl auch zu logisch wäre denn dies.

stattdessen hock ich einsam in einer germanischen klitsche

ohne wanne noch kühlschrank oder balkon, seh fern,

allein nach der lesung mit lauwarmem weißwein, switche

vierzig kanäle rauf oder runter. und lebte mal gern.

Oder zu Germany’s Next Top-Model (eigentlich auch eine Coverversion von Rilkes „Panther“; S. 20):

klum-selektion

ihr blick ist vom vorüberziehn an linsen

so leer, als wäre zwischen kinn und stirn

nur werbefläche – mittendrin ein grinsen –

und hinter allen stirnen kein gehirn.

der fohlengang auf hohen schuhen wühlt,

derweil man noch berät, wer besser ging

und besser geht, in meinem mitgefühl,

der anlaß, zugegeben, scheint gering.

gören gieren nach viel geld, viel näher

kommen sie der kohle nie. die eine

mit persönlichkeit, die kam ja eher

nicht so weit. bin fassungslos. ich meine –

statt ein sonett zu schreiben, will ich wissen

wer heut ein foto hat und wer verschissen.

Zuletzt noch eine wunderbar treffende Charakteristik des Schauspielers Ulrich Mühe (S. 65):

mühe (1953-2007)

als habe man ihn aus versehen bestellt,

agiert er vom rand her, vorsichtig, schüchtern.

einer, der sich der tänzchen enthält,

fürs erste zuseher bleibt. und nüchtern.

fremd im sonderbar möglichsten traum,

läßt er ihn langsam erwachen, geht hin,

erobert sein spielfeld, nimmt jeden raum

erst wahr, dann ein – und befiehlt darin.

prüft alle sätze, bevor er sie spricht.

getrocknet, entfettet, schickt er sie los,

sieht nie hinterher, verfällt ihnen nicht.

sein blick, oft sanft und grausam zugleich,

nach außen wie innen, legt wunden bloß,

oasen der sprache im grenzbereich.

Ja. Krausser: eine Entdeckung.

Helmut Krausser: Verstand & Kürzungen. Gedichte. DuMont Buchverlag, Köln, 2014. 223 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Gesine Cukrowksi und Ulrich Mühe in einer Folge von „Der letzte Zeuge“. Bleistift. Ca. 2007.

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Karl Riha: Fünfzig Sonette. nach goethe, auf goethe. mit und gegen goethe

Wolfgang Krisai: Goethes Geburtshaus in Frankfurt am Main. Aquarell.Ein winziges Buch aus einem winzigen Verlag. Der Wiener Ein-Frau-Verlag „Edition Splitter“ (nicht zu verwechseln mit dem Splitter-Verlag, der Comics produziert) führt einen kleinen Schauraum in der Wiener Salvatorgasse, an dem ich mit einem Freund vorgestern zufällig vorbeikamen. Wir schauten in die Auslage und wurden sogleich von einer Dame energisch hereingewunken. Wir sollten doch keine Schwellenangst haben! Die Dame stellte sich vor als „Ich bin die edition splitter, die es seit 23 Jahren gibt“. Wir besichtigten die an den Wänden hängenden Bilder und die ausgestellte Verlagsproduktion – von aktuellen Neuerscheinungen wie „Ich möchte durchbrennen in meine Welt“ (eine Sammlung von Aphorismen einer Demenzkranken) bis zur Eugen-Gomringer-Gesamtausgabe in vier Bänden. Deren Nachworte schrieb der Literaturwissenschaftler Karl Riha, von dem ich schließlich das kleine Bändchen „Fünfzig Sonette“ kaufte. Und noch am selben Abend las. Mit größtem Vergnügen.

Es handelt sich nämlich um Goethe-Parodien und witzige Gedichte über Goethe in allen Spielarten, von konkreter Poesie bis zu klassisch gestaltetem Sonett. Das Werkchen erschien bereits 1999, zum 250. Geburtstag des Meisters. Dazu gleich ein Gedicht:

 

zur geburt – vor 250 jahren

 

aha, noch ist der muttermund zu

doch ich arrangiere schon mal das interview

da, die mutter gerät in schweiß

es kündigt sich an: eine geburt per steiß

 

herr goethe, frag ich, Sie erwarten

hier doch wohl keinen edens garten

ich sag’s grad heraus, ist es auch fies

es führen andere wege ins paradies

 

bis zum von im namen fließt noch etwas zeit

nun ja, ich sehe: Sie sind bereit

trotz allem in diese welt zu treten

 

ich sehe den vater ein dankgebet beten

rascher als gedacht ist die geburt vorbei

da hör ich auch schon den ersten schrei

 

Wie sieht konkrete Poesie als Sonett aus? Zum Beispiel so:

 

goethes faust I

 

5555555555555555

ffffffffffffffffffffff

iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii

nnnnnnnnnnnnnn

 

gggggggggggggggg

eeeeeeeeeeeeeeee

rrrrrrrrrrrrrrrrrr

gggggggggggggggg

 

eeeeeeeeeeeeeeee

bbbbbbbbbbbbbb

aaaaaaaaaaaaaaaa

 

lllllllllllllllllllllllllll

lllllllllllllllllllllllllll

ttttttttttttttttttttt

 

Vier Stück gibt es nach diesem Prinzip, eines davon sogar in bairischer Mundart. Die Gretl sagt da: m-i-a-g / r-a-u-z / v-o-a / d-i-a (Form vorzustellen nach obigem Bauprinzip).

Heuer haben wir ja u. a. ein Shakespeare-Jahr. Dazu passt „im kreis der meister“: „dante ist der goethe italiens / shakespeare ist der goethe englands / [weitere elf Verse, leicht zu imaginieren, der letzte dann:] goethe ist der goethe deutschlands“. So weit zur bedeutungsmäßigen Einordnung Shakespeares.

 

Karl Riha: Fünfzig Sonette. nach goethe, auf goethe. mit und gegen goethe. edition splitter, Wien, 1999. 58 Seiten.

(Zu Buchgestaltung: Größe ca. Reclam-Heft, kartoniert, aber dennoch fadengeheftet. Vergnüglicher Preis: 7.- Euro.)

Bild oben: Wolfgang Krisai: Goethes Geburtshaus in Frankfurt am Main. Aquarell. 2002.

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Popshot Issue 6

Wolfgang Krisai: Liebespaar. Bleistift. 2008.

Gestern kaufte ich am Westbahnhof – wo immer noch der beste Zeitschriften-Shop Wiens ist – das neueste Heft der britischen Poetry-Zeitschrift „Popshot“: The Love Issue.
Heute bereits durchgelesen, einige Websites der Illustratoren studiert und Unterrichtsideen entwickelt. Die Zeitschrift enthält 20 Liebesgedichte unterschiedlichster Art, und zu jedem Gedicht gibt es eine ganzseitige, originelle Illustration eines modernen Illustrators.
Die Zeitschrift erscheint halbjährlich. Und gefällt mir so gut, dass ich alle noch lieferbaren älteren Ausgaben bestellt und die zukünftigen Hefte abonniert habe.

Besonderes Highlight:
Jigsaw. Poem by Luke Wright

A marriage ist a boxless jigsaw puzzle
no guiding image and no guarantee
that pieces aren’t astray, no warranty.
Some soon decide it isn’t worth the trouble
when slotting parts together is no longer
enough. Some never see the bigger picture.
But patient couples, willing just to sit there
until at last they know which fragments fit
and which to lay aside for later on.
They help each other find the missing parts,
piece dreams together; side by side they sit.
And if there’s rules, they follow only one:
complete the frame, then work towards the heart.

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