Archiv der Kategorie: Russische Literatur

Michail Schischkin: Auf den Spuren von Byron und Tolstoi. Eine literarische Wanderung von Montreux nach Meiringen

Ein Freund hat mir Michail Schischkin: „Auf den Spuren von Byron und Tolstoi. Eine literarische Wanderung von Montreux nach Meiringen“ geschenkt. Ich wurde neugierig, vor allem des Familiennamens des Autors wegen: Schischkin. Dabei hat dieser nichts mit dem von mir geliebten Maler Iwan Iwanowitsch Schischkin zu tun. Oder vielleicht doch – hinsichtlich der Begeisterung für die Natur.

Missolunghi … Astapowo … ?

Das Buch erschien erstmals unter dem Titel „Montreux – Missolunghi – Astapowo“ im Jahr 2002 im Limmat-Verlag. 2012 wurde es im Rotpunkt-Verlag neuerlich und unter anderem Titel aufgelegt. Vermutlich, weil man fürchtete, die Orte Missolunghi und Astapowo könnten beim heutigen Lesepublikum keine Assoziationen mehr wecken.

Missolunghi? Da ist Byron gestorben. Astapowo? Das ist jene Bahnstation in der russischen Einöde, wo der greise Leo N. Tolstoi auf der Flucht vor seiner Frau von einer Krankheit niedergeworfen wurde und gestorben ist.

Montreux … ?

Was haben die beiden mit Montreux zu tun? Beide Autoren unternahmen, durch einige Jahrzehnte voneinander getrennt, von Montreux aus eine Bergwanderung durch die Schweiz bis Meiringen und hinterließen darüber Aufzeichnungen.

Eine Woche wandern, 400 Seiten schreiben

Michail Schischkin, der als Autor eines Buches über „Die russische Schweiz. Ein literarisch-historischer Reiseführer“ (auf Russisch 2000 erschienen, auf Deutsch 2003) über die Schweizbesuche russischer Schriftsteller bestens Bescheid wissen musste, machte sich selbst auf den gleichen Weg, um über seine Erfahrungen und die seiner berühmten Kollegen ein Buch zu schreiben. Sieben Tage dauerte die Wanderung, das buchförmige Resultat hat 400 Seiten. Das ist eine noch beachtlichere Ausbeute als jene Theodor Fontanes, der über 14 Tage Schottland immerhin 200 Seiten geschrieben hat (siehe meinen Beitrag zu Th. Fontane: Jenseit des Tweed).

Schischkin nützt allerdings die modernen Möglichkeiten, indem er statt eines Notizbuchs seinen Laptop mitführt und bei jeder Rast an seinem Buch weitertippt. (Wieweit danach noch zu Hause daran ergänzt wurde, verrät er nicht.)

Tolstoi … Byron …

Wer nun einen detaillierten Wanderbericht erwartet, wird allerdings enttäuscht. Schischkin hält die Passagen über seine eigene Wanderung ziemlich kurz und widmet sich dafür mit großer Ausführlichkeit Tolstoi, aus dessen Tagebuch viel zitiert und über dessen Leben und Schaffen sehr viel erzählt wird. Gleich danach folgt, mengenmäßig, Byron, doch auch andere große Geister kommen zu Ehren: etwa der Russe Karamsin, der aus Genf stammende Jean-Jacques Rousseau oder der Deutsche Friedrich Nietzsche.

Man lernt in diesen Passagen nicht nur den Blick dieser Männer auf die Schweiz kennen, sondern vor allem sie selbst. Von Byron konnte mir Schischkin noch viel Neues erzählen, von Tolstoi weniger. Trotzdem waren diese Abschnitte durchaus interessant.

Noch interessanter allerdings sind jene Passagen, die von Schischkins Erfahrungen in der Sowjetunion (er wurde 1961 in Moskau geboren), im Russland nach der Wende und in der Schweiz (wo er seit 1995 lebt) handeln.

Russland … Schweiz …

Amüsante und lehrreiche Aspekte kann Schischkin vor allem dem Gegensatz zwischen der Schweiz und Russland abgewinnen. Das ist wie schwarz und weiß. Wobei allerdings die Schweiz nicht immer weiß ist. Schischkin hat einst seinen Bruder in einem sowjetischen Arbeitslager besucht und zum Vergleich später ein Schweizer Gefängnis (nur wer seine Gefängnisse kenne, kenne ein Land wirklich), und das Schweizer Gefängnis sei komfortabler gewesen als z. B. ein russisches Hotel für Schriftsteller. Kein Wunder, dass die Auffassungen von Recht und Gesetz in beiden Ländern einigermaßen unterschiedlich sind. Der Schweizer könne dem Gesetz und seinen Exponenten, also den Behörden, vertrauen, während der Russe die geschriebenen Gesetze zu umgehen versucht, sich jedoch, will er irgendetwas erreichen, nach ungeschriebenen Gesetzen richten muss, die ihm z. B. vorschreiben, mit wieviel Rubel welcher Beamte zu schmieren ist. In der Schweiz herrsche jahrhundertelange Stabilität, während in Russland innerhalb der letzten hundert Jahre kein Stein auf dem anderen geblieben sei.

Die dunklen Seiten der Schweiz

Die dunklen Seiten der Schweiz hingegen sind vor allem im Bankwesen zu finden, das zur Geldwäsche und für allerlei Verbrechertum missbraucht werde. Den Mythos von Wilhelm Tell nimmt Schischkin genüsslich auseinander. Die politischen Wirren zu Zeit Napoleons werden dem unwissenden Leser vor Augen geführt. Und Schischkin berichtet mit Sinn fürs Absurde davon, wie das Schweizer Sozialsystem von angeblichen Asylanten missbraucht wird.

Die Schönheiten der Alpen

Diese Seiten der Schweiz kontrastieren mit den Schönheiten der Alpen, die Schischkin ebenfalls schildert, sehr häufig eben durch die Augen seiner Gewährsmänner. Denn höchstpersönlich erlebt er die Alpentäler und Bergdörfer natürlich eher als Brennpunkte des Tourismus. Aber sogar in unmittelbarer Umgebung weltberühmter Wasserfälle oder Gipfelblicke gilt: Kaum weicht man ein paar Schritte von den touristischen Heerstraßen ab, ist man allein.

Schischkin schrieb dieses Buch auf Deutsch, es gibt kein russisches Original wie von allen seinen anderen Publikationen. Das ist eine erstaunliche Leistung, auch wenn man annehmen darf, dass LektorInnen den einen oder anderen Fehler ausgemerzt haben. Der Text liest sich jedenfalls sehr angenehm und flüssig, sodass der vergnüglichen Horizonterweiterung der Leserin bzw. des Lesers nichts im Wege steht.

Ohne Bilder …

Im Zeitalter von Google-Maps verzichteten Autor und Verlag auf die Beigabe von Landkarten oder Abbildungen. Wodurch einem schmerzlich bewusst wird, wie schlecht die Qualität der Darstellung von Wegen und Topographie in Google Maps immer noch ist. 

Michail Schischkin: Auf den Spuren von Byron und Tolstoi. Eine literarische Wanderung von Montreux nach Meiringen. Rotpunktverlag, Zürich, 2012. 407 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Der Montblanc in Wolken. Aus einem Reisetagebuch von 2010. Tuschestift, Buntstift.

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Anton Čechov: Die Dame mit dem Hündchen

Wolfgang Krisai: Mädchen mit Hund in der Dordogne. Tuschestift, Buntstifte, 2014.

Ich kaufte mir die zweibändige gebundene Ausgabe von Anton Čechov: „Späte Erzählungen“ aus dem Diogenes-Verlag und las als erste Erzählung „Die Dame mit dem Hündchen“.

Eine junge Dame mit einem Spitz

Zu Anfang spielt diese Erzählung in Jalta unter Kurgästen. Dmitrij Dmitrievič Gurov ist schon zwei Wochen hier auf Kur, da tritt ein neuer Kurgast in Erscheinung: eine junge Dame, zehn Jahre jünger als Kurov, mit einem Hündchen, einem weißen Spitz.

Es dauert nicht lange, da bietet sich für Gurov die Gelegenheit, die Dame kennenzulernen. Sie sitzen nämlich zufällig an nebeneinanderliegenden Tischen auf der Terrasse eines Cafés. Der Hund bietet den Anknüpfungspunkt, und schnell ist man im Gespräch. Die Dame heißt Anna Sergeevna (eine Anspielung auf Anna Sergeevna Karenina) und wirkt wie jemand, der zum ersten Mal allein unterwegs ist. Irgendwie bemitleidenswert, denkt Gurov danach.

Ein erster Kuss, eine erste Nacht

Eine Woche später treffen sie einander wieder, gehen an die Anlegestelle des Dampfers, beobachten die aussteigenden Menschen und stehen immer noch dort, als auch die letzten Ankömmlinge sich entfernt haben. Da küsst Gurov Anna plötzlich leidenschaftlich. „Gehen wir zu Ihnen“, schlägt er vor (S. 296), und Anna lässt sich drauf ein. Nach dem diskret mit Schweigen übergangenen Geschehen im Hotelzimmer erzählt Anna von ihrem schlechten Gewissen. Sie fühle sich vom Bösen verführt. Und Gurov werde sie wohl bald nicht mehr achten, da sie ein leichtfertiges Wesen sei. „Ich bin eine schlechte, niedere Frau, ich verachte mich und denke nicht an Rechtfertigung. Ich habe nicht meinen Mann betrogen, sondern mich selbst. Und nicht erst heute, ich betrüge ihn schon seit langem. Mein Mann ist vielleicht ein ehrenwerter, guter Mensch, aber er ist doch ein Lakai! […] Leben, nur leben wollte ich! […] ich konnte mich nicht mehr beherrschen, etwas war mit mir geschehen, ich war nicht mehr zu halten, sagte zu meinem Mann, ich sei krank, und fuhr hierher …“, erklärt Anna (S. 298)

Noch in derselben Nacht fahren die beiden in einen Nachbarort, wo sie an der Küste sitzen und das Meer betrachten. Ab dieser Nacht treffen sie sich täglich.

Ein Brief vom Ehemann

Als ein Brief von Annas Mann kommt, er sei krank geworden, reist sie ab und verabschiedet sich von Gurov für immer. Sie kehrt in die Gouvernementsstadt S. zurück.

Auch Gurov kehrt nach Moskau zurück, doch die Erinnerung an Anna verfolgt ihn auf Schritt und Tritt. Schließlich fährt er nach S., macht Anna im Theater ausfindig, in einer versteckten Ecke küssen sie einander, doch Anna fleht ihn an, nach Moskau zurückzukehren. Sie werde zu ihm kommen.

Und so setzen sie ihre außereheliche Beziehung fort, indem Anna einmal im Monat unter einem Vorwand nach Moskau fährt und sie miteinander ein paar Stunden im Hotel „Slavjanskij Bazar“ (einem Nobelhotel am Roten Platz) verbringen.

Für Gurov ist klar: Er hat schon viele Beziehungen gehabt, aber noch nie geliebt. Doch nun liebt er zum ersten Mal wirklich:

Ein offenes Ende

„Anna Sergeevna und er liebten sich wie zwei einander sehr nahe, vertraute Menschen, wie Eheleute, wie zärtliche Freunde; ihnen schien, als habe das Schicksal sie füreinander bestimmt, unbegreiflich nur, weshalb er, wie auch sie, mit einem anderen Menschen verheiratet war […]. Danach berieten sie lange, sprachen darüber, wie sie es vermeiden könnten, sich zu verstecken, zu betrügen, in verschiedenen Städten zu leben, sich lange nicht zu sehen. […] und beiden war klar, dass es bis zum Ende noch sehr-sehr weit war und dass das Komplizierteste und Schwierigste eben erst begonnen hatte.“ (S. 314f)

So endet die Geschichte – etwas abrupt.

Interessant daran ist, dass hier die außereheliche Liebe der beiden als die wirkliche Liebe dargestellt wird und man als Leser den Ausgang des Geschehens selbst imaginieren muss. Gelingt es den beiden, ihre Liebe auszuleben? Stirbt vielleicht Annas Ehemann? Betrügt Dmitrijs Frau diesen vielleicht auch? Dann könnten sich Möglichkeiten auftun. Oder wird aus der Liebe doch nichts als ein sich totlaufendes Ritual? Oder fliegt die Sache auf und es kommt zu einem Duell, wo Dmitrij auf der Strecke bleibt?

Eine kongeniale Übersetzung

Die Erzählung ist kurz und flüssig geschrieben. Der Diogenes-Verlag preist in seiner Verlagschronik* die Übersetzung Peter Urbans als kongenial, der lakonischen, alltäglichen Sprache Čechovs angemessen. Für den Verlag steht die wissenschaftliche Transkiption des Namens gleichsam symbolisch für „zeitgemäß“ und „modern“, während die unter dem Namen Tschechow veröffentlichten Ausgaben veraltet seien. Angesichts solcher Überheblichkeit packt mich gleich eine gewisse Skepsis. Leider kann ich nicht überprüfen, welche der Übersetzungen, die ich habe, dem Original am ehesten entspricht.

Für die Diogenes-Ausgabe spricht aber deren umfangreicher Apparat mit Entstehungsgeschichte, Anmerkungen, Selbstzeugnissen, usw. Erfreulicher Weise wurde inzwischen das Problem mit der Betonung der russischen Namen behoben, das in meiner „Drei-Schwestern“-Ausgabe von 1974 noch besteht: In den Anmerkungen werden alle Namen etymologisch erklärt und die Betonung durch Akzente gekennzeichnet. Da erlebt man so seine Betonungs-Überraschungen.

Anton Čechov: Die Dame mit dem Hündchen. In: ders.: Die Dame mit dem Hündchen. Späte Erzählungen 1897-1903. Übersetzt und mit einem umfangreichen Anhang versehen von Peter Urban. Diogenes, Zürich, 2015. S. 291-315.

* Diogenes. Eine illustrierte Verlagschronik 1952 – 2002 mit Bibliographie. Aufgezeichnet von Daniel Kampa. Diogenes, Zürich, 2003.

Bild: Wolfgang Krisai: Mädchen mit Hund in der Dordogne. Tuschestift, Buntstifte, 2014.

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Anton Čechov: Drei Schwestern. Drama in vier Akten.

Wolfgang Krisai: Anton Tschechow, nach einem Foto im Tschechow-Museum, Moskau. Tuschestift, 2017.

In einer russischen Provinzstadt leben drei Schwestern, Olga, Mascha und Irina Sergejewna Prozorow mit ihrem Bruder Andrej in einem geräumigen Haus. Die ersten beiden Akte des vieraktigen Stücks spielen in einem Vestibül mit Blick in den zugehörigen Speisesaal, der dritte im Zimmer von Olga und Irina, der vierte im Garten vor dem Haus.

„Nach Moskau!“ – und doch nicht

Mascha ist mit einem Lehrer, Kolygin, verheiratet, Olga wird im Lauf des Stücks Direktorin des Gymnasiums, ohne dies je angestrebt zu haben, und Irina will heiraten und wird Lehrerin. Das klingt recht solide, wird aber kontrastiert von einem Lebensüberdruss und einer Unlust, in dieser Provinzstadt länger zu leben, die alle drei Frauen erfasst hat. Am liebsten würden sie „nach Moskau!“ ziehen, ein Ausruf, der zum Leitmotiv des Stücks wird. Doch im Endeffekt kann sich keine der drei aufraffen, wirklich die Stadt zu verlassen und in das Moskau ihrer Träume zu ziehen.

Im Haus verkehren einige Gäste, die die Frauen umschwärmen. Ja, im ersten Akt wird auch Andrej noch umschwärmt, und zwar von Natascha, der er einen Heiratsantrag macht. In Akt zwei bis vier sind sie verheiratet, und die Wirklichkeit der Ehe lässt Andrej ernüchtern und Natascha zu einer keifenden Glucke werden.

Offiziere sind attraktiver als Zivilisten

Die anderen Gäste sind alle männlich, zum Großteil Offiziere. Die Damen finden Offiziere attraktiver als Zivilisten. Dementsprechend wenig haben sie für den stets im Hintergrund anwesenden Doktor Cebutykin übrig, einem Militärarzt, der ständig mit bissigen bis dummen Bemerkungen stört.

Oberstleutnant Verschinin ist der sympathischste der Offiziere, und er verliebt sich ausgerechnet in die schon verheiratete Mascha. Allerdings ist er selbst ebenfalls verheiratet, mit einer Frau, die immer wieder Selbstmordversuche macht, und Vater zweier Töchter.

Ein Duell

Irina wird von Baron Tutzenbach, einem deutschstämmigen Russen, der mehrmals betont, er sei kein Deutscher, sondern Russe, sogar orthodox, umschwärmt, doch leider kann sie dessen Liebe nicht erwidern. Im vierten Akt hat sie sich dazu durchgerungen, Tutzenbach, der seine Militärlaufbahn zugunsten eines Zivilberufs aufgegeben hat, trotzdem zu heiraten und ihm eine gute Ehefrau zu sein. Tutzenbach hat sich am Vorabend des vierten Akts jedoch zu einer Beleidigung eines Offiziers hinreißen lassen, was zu einem Duell führt, das während des vierten Aktes in einem nahen Wald stattfindet. Man hört sogar den fernen Schuss, der Tutzenbach das Leben kostet.

Im vierten Akt verlässt die ganze Truppe, der die Offiziere angehören, die Stadt und wird nach Polen versetzt. Allgemeiner Abschied daher.

Im Haus leben schließlich nur noch Andrej, Natascha und deren zwei Kinder. Olga hat eine Dienstwohnung im Gymnasium bezogen, wohin sie auch ihre ehemalige, nun über achtzigjährige Amme Anfisa mitgenommen hat. Irina wird ebenfalls wegziehen.

Noch unglücklicher

Alle drei Schwestern sind am Ende noch unglücklicher als zu Beginn. Mascha sagt, sie führe, da Verschinin jetzt abrücken muss, „ein verpfuschtes Leben“ (S. 75). Aber: „Ist doch alles egal …“ (S. 75) Weiterleben zu müssen ist für sie fast eine Strafe: „Alle gehen von uns fort, einer ist ganz von uns gegangen, ganz, für immer, wir bleiben allein, um unser Leben von vorn anzufangen. Wir müssen leben … Wir müssen leben …“ (S. 77)

Trost in der Arbeit

Irina erhofft sich Trost in der Arbeit: „Morgen werde ich allein fahren, ich werde in der Schule Unterricht geben und mein ganzes Leben denen widmen, die es vielleicht brauchen. […] und ich werde arbeiten, arbeiten …“ (S. 77)

Olga hofft, irgendwann den Sinn ihres Lebens herauszubekommen: „und wir werden erfahren, warum wir leben, warum wir leiden … Wenn man es nur wüßte, wenn man es nur wüßte!“ (S. 78)

Einzig Anfisa ist zufrieden, denn endlich hat sie ein eigenes Zimmer und ein eigenes Bett. Bescheidene Freuden einer uralten Dienstbotin.

Melancholie des sinnlosen Lebens

Tschechow fängt in diesem Stück die Melancholie des sinnlosen Lebens ein. Im Gegensatz zur Erzählung „Das Haus mit dem Giebelzimmer“(siehe vorhergehenden Eintrag) gibt es hier keine Figur, die eine sozialrevolutionäre Ideologie vertritt. Kleine Ansätze dazu bietet nur Baron von Tutzenbach, der ein Lob der Arbeit anstimmt und selbst Unternehmer werden will, den jedoch vor der Ausführung dieses Vorhabens der Tod ereilt. Ein sinnloser Tod in einem zum Glück inzwischen abgekommenen sinnlosen „Ritual“.

Meine Ausgabe, übersetzt und kommentiert von Peter Urban, bietet neben dem Text auch einen umfangreichen Kommentar mit Entstehungsgeschichte, Varianten, Tschechow-Texten über sein Stück und einem sehr nützlichen Stellenkommentar.

Tschechow oder Čechov? Ich tendiere ja eher zu Tschechow, der Diogenes-Verlag bedient sich aber der wissenschaftlichen Transliteration des Namens und schreibt Čechov. Eine unerfreuliche Situation, da man nun zwei Schreibungen parallel hat, unter denen Bücher des Autors veröffentlicht sind…

Anton Čechov: Drei Schwestern. Drama in vier Akten. Übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Diogenes, Zürich, 1974. detebe. 131 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Anton Tschechow, nach einem Foto im Tschechow-Museum, Moskau. Tuschestift, 2017.

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Anton Pawlowitsch Tschechow: Das Haus mit dem Giebelzimmer

Wolfgang Krisai: Haus in Maria Enzersdorf. Tuschestift, Buntstift, 2013.Unter drei verschiedenen Titeln habe ich diese Erzählung zu Hause: „Das Haus mit dem Giebelzimmer“, „Das Haus mit dem Mansardendach“ und „Missjussj“.

Ein Maler, zwei Mädchen, ein Landgut

Es geht um einen Landschaftsmaler jüngeren Alters, der auf dem Landgut seines Freundes Belokurow im Gouvernement T. (Tver? Tula?) einen gemütlichen Sommer verbringt, großteils mit Faulenzen. Eines Tages entdeckt er auf einem langen Spaziergang ein nettes Gutshaus mit Giebelzimmer, dringt in den weitläufigen Garten ein und begegnet dort zwei Mädchen, die ihn erstaunt beobachten, aber gewähren lassen. Als er wieder zu Hause ist, fragt der Ich-Erzähler seinen Freund, wer die beiden wohl gewesen seien.

Bald darauf begegnet den beiden bei einem Spaziergang das ältere der beiden Mädchen, Lidija Woltschaninowa, die Belokurow kennt und aufs Gut einlädt. Aus dem darauf folgenden Besuch entwickelt sich im Lauf des Sommers ein regelmäßiger Kontakt des Malers mit den im Landgut wohnenden Damen. Neben Lidija, genannt Lida, sind es deren Mutter Jekaterina Pawlowna und ihre sechzehnjährige Schwester Shenja, die aus der Kindheit den Spitznamen Missjussj trägt (unklar, wie man das korrekt ausspricht).

Konträre Standpunkte

Lida ist eine tatkräftige junge Frau, die es als ihre Aufgabe ansieht, für die Bauern des Umlandes Gutes zu tun, indem sie Schulen und Apotheken fördert. Neben ihren dezidierten Ansichten duldet sie keine weiteren, daher gerät sie mit dem Maler immer wieder aneinander, der über die Wohlfahrt der Bevölkerung ganz andere, nämlich kommunistische Ansichten hat. Shenja hingegen ist still und sanft und verliebt sich allmählich in den jungen Künstler.

Gegen Ende der Erzählung kommt es zum Eklat, als dem Maler einmal die Geduld reißt und er ungewöhnlich heftig widerspricht, als Lida wieder einmal mahnt, man müsse doch Schulen und Apotheken fördern. Im Gegenteil, ruft er, gerade diese Art, die Bauern zu fördern, bewirke das Gegenteil, nämlich noch größere Abhängigkeit vom Grundherrn und noch härtere Arbeit. Auf lange Sicht müsse das System der ungleichen Besitzverhältnisse und Arbeitsverteilung über den Haufen geworfen werden. Wenn alle Menschen sich an der Arbeit, die zum Wohl aller getan werden muss, beteiligen, bleibe auch allen genug Freizeit, um sich zu bilden. Erst das werde zu wahrer Bildung führen und die Menschen glücklich machen.

Leidenschaftlicher Kuss

Als Lida beleidigt ist, zieht sich der Maler zurück und will nach Hause gehen, trifft im Garten aber auf Shenja, die ihn ein Stück begleitet. Es ist schon eine herbstlich kühle Nacht, und sie friert bald erbärmlich. Als ihr der Maler seinen Mantel umlegen will, übermannt es ihn und er küsst Shenja leidenschaftlich. Deren Reaktion ist zwar nicht ablehnend, sie gesteht dem Maler aber, dass sie zu Hause keine Geheimnisse voreinander hätten und sie daher sofort den Vorfall der Mutter und der Schwester berichten werde. Und sie fürchte, Lida werde die Sache nicht gutheißen…

Als Shenja weg ist, streift der Maler noch lange im Garten herum und starrt zu den Fenstern des Giebelzimmers, wo Shenja wohnt, hinauf.

Abgereist…

Als er am nächsten Nachmittag wiederkommt, trifft er nur Lida an, die einem Mädchen Unterricht gibt und ihm sagt, die beiden anderen seien abgereist und würden den Winter über wegbleiben. Ein Diener steckt dem Maler ein Briefchen Shenjas zu: „Ich habe alles meiner Schwester erzählt, und sie verlangt, daß ich mich von Ihnen trenne“, las ich. „Ich habe nicht die Kraft, sie durch meinen Ungehorsam zu kränken. Gott möge Ihnen Glück gewähren, verzeihen Sie mir. Wenn Sie wüßten, wie bitterlich ich und Mama weinen!“ (S. 271)

Ein Abschnitt, der Jahre später spielt, schließt die Erzählung. Der Maler hat zufällig Belorukow getroffen, den er nach den Woltschaninows fragt. Doch dieser weiß nicht viel, von Shenja gar nichts.

Der Maler denkt auch nach Jahren immer wieder an das Haus mit dem Giebelzimmer, „und aus irgendeinem Grunde glaube ich, daß man auch meiner gedankt, daß man auf mich wartet – und wir uns einst noch begegnen werden … Mißjussj, wo bist du?“ (S. 273)

Eine Liebe, die nicht gedeihen konnte

Das ist eine schöne, melancholische Erzählung über eine Liebe, die nicht gedeihen kann und doch nicht ganz stirbt. Die einem dann das ganze Leben lang nachhängt als verpasste Gelegenheit und als Versagen. Im Grunde waren es die politischen Differenzen und die mangelnde Toleranz den Andersdenkenden gegenüber, die diese Liebe zum Scheitern brachten. Durchaus lebensnah.

Anton Pawlowitsch Tschechow: Das Haus mit dem Giebelzimmer. In: A. Tsch.: Neue Meistererzählungen. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, 1949. S. 246-273.

Bild: Wolfgang Krisai: Haus in Maria Enzersdorf. Tuschestift, Buntstift, 2013.

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Andrey Belyj: Petersburg

Wolfgang Krisai: Abstraktes Bild. 2002. Gouache.Anlässlich der Abfahrt meines Sohnes nach St. Petersburg, wo er ein Auslandssemester verbringen wird, nahm ich mir Andrey Belyjs Hauptwerk, den Roman „Petersburg“ aus dem Jahr 1913 vor. So weit war ich vorinformiert, dass man sich davon keine touristisch relevanten Informationen über diese Stadt erwarten darf. Stattdessen bekommt man einen Meilenstein der modernen russischen Romankunst serviert, den Vladimir Nabokov neben Joyce’s „Ulysses“ und Kafkas „Verwandlung“ zu den drei bedeutendsten Texten am Beginn der Moderne zählte.

Bewusstseinsströme?

Der Roman bietet keine mit den erzählerischen Mitteln des 19. Jahrhunderts erzählte „Geschichte“. Wenn man will, kann man ihn als einen „Bewusstseinsstrom“ auffassen – allerdings: wessen? Eines anonymen Erzählers?

Dieser anonyme Erzähler muss ein auktorialer Erzähler sein, weil er ins Gehirn aller seiner Protagonisten hineinschlüpfen kann. Vor allem in die Gehirne seiner beiden Hauptpersonen: Vater und Sohn, Apollon Apollonowitsch und Nikolai Apollonowitsch Ableuchow. Man liest ziemlich konsequent abwechselnd einen Abschnitt aus dem Bewusstsein des Vaters und des Sohnes, manchmal unterbrochen von Abschnitten aus der Sicht weiterer Gestalten der Handlung.

Dabei erfährt man als Leser, was der jeweils an der Reihe Seiende sich denkt, was er fühlt oder wahrnimmt. Manchmal nimmt er Einbildungen wahr: Es geschehen also unvermittelt die seltsamsten Dinge, bis sich am Kapitelende herausstellt, es war ein Traum, eine Fieberphantasie, eine Panikattacke oder Ähnliches.

Das Irrationale des Lebens

Belyj fängt mit dem Roman die Zusammenhanglosigkeit des Lebens ein, die irrationale Seite der Menschen, die Überhitztheit mancher Gedankengänge und die nicht und nicht funktionieren wollende Kommunikation mit den Mitmenschen. Wahrnehmungsfetzen treiben am Leser vorbei, die Figuren stammeln halbe Sätze und ringen um Worte, ohne sie zu finden, sie stürmen durch Petersburg, das eine Hexenküche finsterer Plätze, dunkler Eingänge und kalter Kanäle ist. Streikende Menschenmassen ergießen sich auf den Newski-Prospekt und wirken wie ein gigantischer Tausendfüßler. Die Stadt brodelt in einer vorrevolutionären Atmosphäre.

Apollon Apollonowitsch Ableuchow ist ein hoher Staatsbeamter im Landwirtschaftsministerium und als solcher hoch geachtet und gefürchtet, da er das ganze Land mit seinen Direktiven überzieht und überall Agenten hinschickt. Allerdings lässt seine Gestaltungskraft inzwischen deutlich nach, und in den wenigen Tagen, die der Roman umfasst, wirft Apollon Apollonowitsch seine Arbeit schließlich hin, erscheint nicht mehr im Amt und lässt sich pensionieren.

Als Staatsbeamter ist der Vater ein Vertreter des Regierungssystems, das junge Revolutionäre der damaligen Zeit – der Roman spielt 1905 – stürzen wollen. Daher steht auch Apollon Apollonowitsch auf der Abschussliste, und ironischer Weise soll ausgerechnet sein Sohn Nikolai auf ihn einen Bombenanschlag verüben.

24 Stunden, bis es kracht

Der Roman umfasst ziemlich genau die Zeitspanne von der Übergabe der Zeitbombe an Nikolai bis zu deren Explosion. Das sind mehrere Tage, denn Nikolai braucht einige Zeit, bis er überhaupt realisiert, was er da bekommen hat und in einem Akt des Gehorsams gegenüber der „Partei“ das Uhrwerk des Zeitzünders in Gang setzt. Ab dann sind es noch rund 24 Stunden, bis es kracht…

Nikolai macht in diesen wenigen Stunden eine Wandlung vom Revolutionär zum treuen Sohn durch. So ein richtiger eingefleischter Revolutionär war er ja nie, sondern eher ein Student, der seinen Vater hasst und daher gegen das Establishment ist. Als solcher ist er mit „der Partei“ (man erfährt nicht, welcher genau) in Berührung gekommen, hat dort geäußert, er wolle am liebsten seinen Vater in die Luft sprengen – und siehe da, die Partei nimmt diese Äußerung wörtlich, schwört den Jungspund darauf ein, und schon sitzt er in der Falle.

Vatermord?

Der dubiose Parteisoldat Dudkin, der ihm die Bombe überbracht hat, macht ihm klar, dass es nun kein Zurück mehr gäbe. Und in pubertärer Vatersverachtung zieht Nikolai tatsächlich das Teufelsding auf. Kaum ist das geschehen, wird ihm aber anders, denn er realisiert erst jetzt, was er da eigentlich vorhat: Vatermord! Davor schreckt er nun doch zurück – nur ist es dafür zu spät.

Einer seiner „Freunde“ (Nikolai hat nur dubiose Freunde) versteht ihn und rät ihm, die Bombe, da das Uhrwerk nicht zu stoppen ist, einfach in die Newa zu werfen.

Der Maskierte

Zu allem Überfluss ist Nikolai noch unglücklich verliebt in Sofja Petrowna, die Gattin eines eher waschlappenhaften Leutnants, der sich darein fügt, eine lebenslustige Gattin zu haben. Diese schart Verehrer um sich, ohne sich für einen Geliebten zu entscheiden.

Eines Abends schwirrt der verzweifelte Nikolai an, sieht, dass Sofja nicht zu Hause ist, versteckt sich im Eingangsbereich und erschreckt die Heimkehrerin schließlich gewaltig. Da sie ihn nicht erkennt (er hat einen roten „Domino“, also einen Maskenmantel, an), wird sie halb hysterisch. Die Geschichte wird herumerzählt, und ein um Themen verlegener Redakteur einer Petersburger Postille erfindet nun Episode um Episode über den „roten Domino“, der in der ganzen Stadt sein Unwesen treibe. Nikolai merkt davon nichts, weil er das Blatt nicht liest.

In der vorletzten Nacht der Handlung findet ein Maskenball statt, wo sowohl Vater wie auch Sohn Ableuchow hingehen. Der Vater, weil er der Gastgeberin verpflichtet ist, der Sohn, weil er dort die Geliebte zu treffen hofft. Diese wiederum geht ihrem Gatten zum Trotz hin, der ihr den Ballbesuch verboten hat, und übergibt Nikolai nebenbei den Brief der Partei, in dem diese den Bombenanschlag befiehlt.

Es ist unmöglich, hier die gesamte Handlung wiederzugeben, die unter anderem überhitzte Gespräche, tätliche Auseindersetzungen und einen Mord an einem Parteifunktionär zu bieten hat. All das saust in kurzen Kapiteln am Leser vorbei, der Mühe hat, den Überblick zu behalten. Etwa ab der Mitte, wo der Bomben-Mechanismus aufgezogen wird, packt einen dann auch die Spannung, was nun passieren wird. Wirft Nikolai die Bombe in die Newa? Oder steckt er sie wie zuvor ausgemalt unter Apollons Kopfkissen?

Das Opfer entdeckt die Bombe

Weder, noch. Denn während Nikolai bei der Partei seinen Rücktritt vom Schwur, den Vater zu ermorden, erklärt, stöbert Apollon im Schreibtisch des Sohnes herum, entdeckt eine tickende Sardinenbüchse, nimmt sie in sein Arbeitszimmer mit und untersucht sie ein wenig. Dann jedoch vergisst er das seltsame Ding.

Er erfährt nämlich, dass seine Frau, die vor zweieinhalb Jahren mit einem Spanier durchgebrannt ist, wieder zurückgekehrt ist. Apollon holt sie vom Hotel nach Hause zurück.

Währenddessen sucht der heimgekehrte Nikolai verzweifelt nach der Bombe, die er in die Newa werfen will, findet sie aber in seinem Zimmer nicht mehr. Da er nicht gut fragen kann, ob jemand vom Personal eine tickende Zeitbombe gefunden und mitgenommen hat, steigt seine Verzweiflung, bis er erfährt, dass ein Gast in seiner Abwesenheit bei ihm war, eingelassen wurde und das Zimmer durchstöbern konnte. Gewiss hatte dieser die Bombe mitgenommen. Halbwegs beruhigt beteiligt sich Nikolai an der großen Versöhnung mit der Mutter.

Explosion

Als alle schließlich im Bett liegen, kracht es im Arbeitszimmer unbeschreiblich, die Fenster zersplittern, die Wand bekommt Risse, es qualmt, staubt, brennt – doch niemand wird verletzt oder getötet.

Typisch. Im wirren Chaos der Roman-Ereignisse explodiert die Bombe am „falschen Ort“. Was da eigentlich los war, findet die Polizei nie heraus. Nikolai allerdings entfleucht lieber nach Ägypten, während der Vater sich, allmählich zum Tattergreis werdend, auf ein Landgut zurückzieht und dort seinen Lebensabend mit seiner Frau verbringt. Nach dem Tod des Vaters kehrt Nikolai nach Russland zurück und betätigt sich seinerseits als Gutsbesitzer. Vom einstigen Möchtegern-Revolutionär ist also nichts übriggeblieben. All das erfährt man in einem kurzen Epilog.

Musikalische Sprache

Übrigens bleibt dem Leser einer Übersetzung eine wesentliche Dimension des Romans vorenthalten, wie J. Holthusen in „Russische Literatur im 20. Jahrhundert“, Francke, Tübingen., 2. Aufl. 1992, S. 48 ausführt:

„Den westlichen Leser, der auf Übersetzungen angewiesen bleibt, täuschen Belyjs Romane notwendigerweise in Bezug auf ihre artistische Bedeutung. Das liegt daran, daß Belyj einen ganz eigenen ‚phrasierten‘ Prosastil geschaffen hat, der von Anfang bis zum Ende auf rhythmischen Bögen und Phrasen aufgebaut ist. Belyj hat nicht nur den ornamentalen Stil Gogols weiterentwickelt, sondern auch (wie schon in den ‚Symphonien‘) von musikalischen Prinzipien einen weitgehenden Gebrauch gemacht (Wiederholungen, Variationen, Leitmotive). Neben der ständigen Wiederaufnahme bestimmter ‚Phrasen‘ sind auch Belyjs Wortspiele sehr zu beachten, seine ironischen Anspielungen und seine doppeldeutigen Selbstzitate.“

Während Joyce mit experimentellen Formen und Proust mit übergenauer Seelenzergliederung den modernen Roman erschaffen, liefert Belyj mit „Petersburg“ dazu das Satyrspiel. Sein Roman ist eine surrealistisch wirkende Groteske, die lange vor dem Absurden Theater und dem Existenzialismus die Absurdität des Daseins vor Augen führt.

Andrey Belyj

Abschließend noch ein paar Bemerkungen zu Andrey Belyj:

Er hieß eigentlich Boris Nikolajewitsch Bugajew und lebte von 1880 bis 1934. Sein Vater war Mathematikprofessor in Moskau, und auch der Sohn studierte u. a. Naturwissenschaften. Er wurde zum führenden Symbolisten der russischen Literatur, versuchte das moderne Denken mit religiösen Weisheitslehren zu verbinden und ließ sich von Rudolf Steiner so sehr faszinieren, dass er vier Jahre lang (1912-16) am Aufbau des Goetheanums in Dornach mitwirkte. Zuvor hatte er nach Anfängen mit Lyrik („Symphonien“, 1902-1908) seine beiden ersten Romane veröffentlicht: „Die silberne Taube“ und „Petersburg“, die eigentlich ein dritter zu einer Trilogie abrunden sollte, der nie geschrieben wurde.

Nach der Oktoberrevolution betätigte Belyj sich zunächst als revolutionärer Schriftsteller, verließ das Land aber enttäuscht im Jahr 1921 und übersiedelte nach Berlin. Schon zwei Jahre später kehrte er aber in die Sowjetunion zurück, schrieb seine Memoiren und eine Studie über  „Die Meisterschaft Gogols“. Eine 1500 Seiten starke Geschichte Europas unter dem Titel „Geschichte der allmählichen Selbsterkenntnis der Seele“ durfte nicht erscheinen und wurde erst 1993 gedruckt. (Nach dem Artikel über „Bely“ in Wolfgang Kasack: Russische Autoren in Einzelportraits. Reclam, Stuttgart, 1994, S. 41-48.)

Andrey Belyj: Petersburg. Aus dem Russischen von Gisela Drohla. Lizenzausgabe der Deutschen Buch-Gemeinschaft mit Genehmigung des Insel-Verlags, Frankfurt; 1963. 425 Seiten.

2005 erschien bei Suhrkamp eine Neuübersetzung von Gabriele Leupold, die gleich um 200 Seiten länger als meine Version ist. Warum? Weil Belyj im Lauf seines Lebens den Roman für Neuausgaben gekürzt hat. Die Suhrkamp-Version hat die ursprüngliche Länge (suhrkamp-taschenbuch 3716, 638 Seiten).

In meiner Ausgabe wird Andrey mit -y geschrieben, häufiger ist die Schreibung mit -i: Andrei.

Bild: Wolfgang Krisai: Abstraktes Bild. 2002. Gouache.

 

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Thomas Mann über „Anna Karenina“

Wolfgang Krisai: Strand bei Giens. Ölkreide. 2001.

Wolfgang Krisai: Strand bei Giens. Ölkreide. 2001.

Nachdem ich „Anna Karenina“ gelesen hatte, fiel mir ein, dass ich ja Thomas Manns Äußerungen über Tolstoi und insbesondere dieses Werk lesen könnte. Thomas Mann schrieb, wie ich feststellte, einen eigenen kleinen Essay über „Anna Karenina“.

Zunächst schildert er darin sich selbst, wie er in einem Strandkorb an der Ost- oder Nordsee sitzt, die Brandung beobachtet und dabei das gewaltige Heranrauschen des Meeres als Gleichnis für den Roman sieht: „Das Element der Epik mit seiner rollenden Weite, seinem Hauch von Anfänglichkeit und Lebenswürze, seinem breit anrauschenden Rhythmus, seiner beschäftigenden Monotonie – wie gleicht es dem Meere, wie gleicht ihm das Meer!“ Und in Tolstoi sieht TM den Roman zu höchster Größe gewachsen, wobei er „Anna Karenina“ noch über „Krieg und Frieden“ stellt. AK sei der bedeutendste Gesellschaftsroman der Weltliteratur.

TM erzählt eine nette Anekdote, wie Tolstoi den Anfang des Romans gefunden habe: als er nämlich seinem Sohn die „Erzählungen Belkins“ von Puschkin aus der Hand nahm und darin den Satz fand: „Die Gäste versammelten sich im Landhause“. So müsse ein Roman beginnen, habe er gesagt, sich hingesetzt und zu schreiben begonnen.

TM bespricht dann ausführlicher, wie schwer Tolstoi das Schreiben des Romans wurde – obwohl man es dem Werk überhaupt nicht anmerkt. Denn Tolstoi hatte in dieser Periode – 1873-78 – mit einer völligen Umwälzung seiner Weltanschauung zu kämpfen, die dazu führte, dass er die Kunst, seine eigene natürlich gleich mit, in Grund und Boden verdammte und nur noch als Mittel, moralische Ansprüche zu popularisieren, gelten ließ. Doch der Künstler in Tolstoi, meint TM, habe über den Moralapostel und Weltverbesserer Tolstoi immer wieder gesiegt, sodass der Autor gewissermaßen gegen sich selbst geschrieben habe.

Konstantin Lewin sei – statt Anna, die Tolstoi offensichtlich geliebt habe – die eigentliche Hauptfigur, das Sprachrohr des Autors, der sehr viele biographische Details, vor allem aber seine ganze Weltanschauung vom Autor aufgeladen bekommen habe. Nur dessen künstlerische Seite nicht. Das ist mir erst beim Lesen des Essays bewusst geworden, ein wie unkünstlerischer Mensch Lewin ist – bei aller Sympathie, die man für ihn empfindet, eine erstaunliche Tatsache. Lewin ist der Raisonneur – aber ins Russische gewendet. Er nimmt mit seinen tiefschürfenden Gedanken sich, seine Welt und seine Zeitgenossen auseinander, unterzieht sie einer radikalen Kritik, so radikal, dass am Schluss sogar Tolstois Verleger kalte Füße bekam und den achten Teil nicht mehr veröffentlichen wollte (im Erstdruck in der Zeitschrift „Russischer Bote“). Für Lewin und Tolstoi lässt sich das „richtige Leben“ nur in einer asketischen, kunst- und vernunftfeindlichen Lebenshaltung finden. TM hält dagegen, dass man im 20. Jahrhundert, das zum Teil völlig dem Irrweg des Anti-Rationalismus verfallen sei, erkennen müsse, dass Vernunft und Glaube nicht zu trennen sind, und dass die Kunst nicht ein verdammenswerter Luxus, sondern „das schönste, strengste, heiterste und frömmste Symbol alles übervernünftig menschlichen Strebens nach dem Guten, nach Wahrheit und nach Vollendung“ sei.

Der Essay ist natürlich ein Genuss zum Lesen, da er wie alle Werke TMs überaus geschliffen und treffend formuliert ist. Macht Lust auf weitere Essays, zum Beispiel jenen großen Vortrag über „Goethe und Tolstoi“.

Thomas Mann: „Anna Karenina“. In: T.M.: Leiden und Größe der Meister. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1982, S. 945-963. (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Peter de Mendelssohn.)

Oder in: T. M.: Essays. Hg. v. Michael Mann. Band 1: Literatur. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 1977, S. 182-196.

In der „Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe“ noch nicht erschienen.

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Tolstoi: Anna Karenina. Fertiggelesen.

Wolfgang Krisai: "Anna Karenina". Keira Knightley als A. K. vor einer Dampflok. Gouache.

Wolfgang Krisai: „Anna Karenina“. Keira Knightley als A. K. vor einer Dampflok. Gouache.

Geschafft! Gerade beendete ich jetzt „Anna Karenina“ von Lew N. Tolstoi, das ich am 13. Jänner auf Italienisch begonnen hatte.

Meine deutsche Ausgabe (aus der Reihe „Winkler Weltliteratur“, Winkler, München, 8. Aufl. 1989) kaufte ich am 12. Jänner 1995 bei den Weißen Buchwochen um 150 Schilling und ärgerte mich schon damals darüber, dass sie nicht gebunden, sondern nur geklebt ist. Sie ersetzte eine Flohmarktausgabe mit Plastikeinband (an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnern kann). Damals las ich den Roman zum ersten Mal und hatte ihn dank der Semesterferien innerhalb einer Woche bewältigt. Das steht im Tagebuch von damals.

Vor rund einem Jahr – oder waren es schon zwei? – hatte ich einen weiteren Versuch gemacht, war aber nur bis zur Hälfte gekommen und gab dann auf.

Film „Anna Karenina“ mit Keira Knightley

Heuer kam der Anna-Karenina-Film mit Keira Knightley in der Titelrolle heraus, den wir uns gleich ansahen und begeistert waren. Eigentlich wollte ich den Roman noch schnell vorher lesen, doch es war eigentlich von vornherein klar, dass dies ein aussichtsloses Vorhaben war. Also kam mir der Film dazwischen und beeinflusste meine Lektüre natürlich. Ich hätte mir allerdings erwartet, dass sich die Filmfiguren stärker über die eigenen Vorstellungen von den Figuren legen, als es dann tatsächlich der Fall war. Die Figur des Lewin gefiel mir im Film überhaupt nicht, er war zu sehr dem Bild eines Fanatikers nachgezeichnet, was er zwar teilweise ist, aber dennoch ein sehr sympathischer. Doch der Film-Lewin verblasste schnell in meinem Gedächtnis und machte wieder meinem Lewin Platz, der – ehrlich gesagt – recht nebulos ist. Überhaupt entwickeln sich Romanfiguren in meinem Bewusstsein nicht zu detailliert gezeichneten Bildern, gar „Figuren“, sondern bleiben ziemlich vage. Ob das bei anderen Lesern auch so ist? Eher schon überlagerte die pausbäckige Film-Kitty die doch viel weniger kindliche Figur des Romans ungebührlich.

Anna-Karenina-Bild

Anna hingegen wird durch Keira Knightley, finde ich, meisterhaft und äußerst treffend verkörpert. Sie ist schön, hat einen Hauch von Verführerischem an sich, aber auch einen nicht geringeren Hauch von Vulgarität, und genau diese Mischung lässt sie ja in ihr Verhältnis mit Wronskij stolpern. Mich wiederum verführte sie dazu, ein Bild von Anna Karenina zu malen, das die für einen Ball herausgeputzte Frau vor dem dampfumwölkten Triebgestänge einer riesigen Lokomotive zeigt: eine „Vision“ des Kommenden, und das noch dazu im doppelten Sinne: einerseits ist Tod Annas angedeutet, andererseits auch die Zukunft der Eisenbahn, denn die gemalte Lokomotive stammt aus viel späterer Zeit als jener des Romans. Außerdem wirft sich bei Tolstoi Anna nicht vor die Lok, sondern gezielt zwischen die Räder eines Waggons eines vorbeifahrenden Personenzugs. Warum das, könnte man sich fragen. Ich vermute, dass eine Lok damals einen „Kuhfänger“ vorne dran hatte und Anna daher nur vom Gleis geworfen hätte, ohne sie gleich zu töten. Und ein Sprung zwischen die Waggonachsen war möglich, weil der Zug erstens innerhalb der Station sehr langsam fuhr, andererseits am Waggonboden noch keine Kästen, Leitungen, Verschalungen, etc. angebracht waren, die verhindert hätten, dass man sich da überhaupt darunterwerfen konnte.

Psychologisches Meisterwerk

Dass sich mir der Roman immer mehr erschlossen hat, verdanke ich einer Bemerkung eines Kollegen, der sagte, er bewundere an dem Buch die überaus genauen psychologischen Schilderungen. Und das stimmt wirklich. Tolstoi ist ein Meister der seelischen Tiefen – und Untiefen! Er zeigt die Vielschichtigkeit psychischer Vorgänge. Da sagt einer etwas, meint das Gegenteil, fühlt etwas Drittes und entschließt sich zu einem Vierten, und das alles mehr oder weniger synchron. Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen, seien es nun Liebe oder Hass oder irgendetwas dazwischen, und auch die gesellschaftlichen Beziehungen mit ihrem subtilen Spiel von Ausgesprochenem und Ungesagtem arbeitet Tolstoi unglaublich genau heraus. Natürlich muss ein Werk, das so genau ist, gewaltig anschwellen. Zumal der Roman von sehr vielen Figuren bevölkert wird und noch dazu eigentlich „zwei Romane in einem“ ist.

Die Handlung um Anna

Da ist zunächst die Handlung um den Ehebruch und die Liebe Annas: Anna ist die Hauptfigur, die beiden Männer sind Graf Alexej Wronskij und ihr Ehemann Alexey Alexandrowitsch Karenin. Das Nachwort des Romans weist darauf hin, dass Tolstoi die „Schuld“ am schrecklichen Ausgang nicht allein Anna aufbürdet, sondern allen dreien. Karenin ist ein grausig steifer Beamtentyp übelster Ausprägung, der für Anna im Grunde kein Verständnis hat und am Ende des Romans im Zirkel der Gräfin Lydia Iwanowna seinen Platz findet, wo scheußliche christliche Bigotterie herrscht und von Nächstenliebe keine Spur mehr ist, wenngleich man sie sich plakativ auf die Fahnen heftet. Und Wronskij ist ein Luftikus, der von seiner Liebe zu Anna selbst überrollt wird. Das ist eigentlich sehr seltsam, dass er tatsächlich zu Anna steht, statt sie wieder fallen zu lassen, als die Sache kompliziert wird. Er liebt sie also wirklich, aber ihre Liebe scheitert daran, dass sie sie zu gesellschaftlichen Außenseitern macht, weil Karenin nicht in die Scheidung einwilligt und Anna ihre Liebe zu Wronskij nicht verstecken will und kann. Traurige Randgestalten dieser Sphäre sind die beiden Kinder Annas: ihr älterer Sohn Serjoscha, der unter der Trennung leidet, sich aber damit abfinden muss (wie er auf den Tod der Mutter reagiert, erfährt man nicht), und ihre Tochter Anni, die sie mit Wronskij hat, aber nicht besonders liebt. Karenin nimmt sie am Schluss zu sich, aus Pflichtbewusstsein. Das wird auch nicht zum reinen Glück geführt haben.

Die markanten Schritte dieser Anna-Handlung sind: die erste Begegnung mit Wronskij am Bahnhof in Moskau; der Tanz beim Ball, wo sie einander verfallen; das Pferderennen, wo Wronskij stürzt und Anna ihre Aufregung nicht mehr verbergen kann und daher anschließend Karenin den Ehebruch gesteht; die Geburt Annis und der dabei fast eintretende Tod Annas, die Karenin und Wronskij zur Versöhnung zwingt, die aber nicht lange vorhält; die Italienreise; die Zeit auf Wronskijs Landgut, wo dieser sich zum vorbildlichen Gutsherrn entwickelt, der ganz auf Innovation setzt und sogar auf eigene Kosten ein kleines Krankenhaus errichtet; dann wieder Moskau.

Besonders beeindruckend ist Annas Verwirrung vor ihrem Selbstmord. Sie phantasiert sich in eine unbegründete, aber durch kleine Details immer wieder bestätigte Eifersucht hinein, die sie erst recht durch eingebildete Aussagen Wronskijs (was er „eigentlich“ hätte sagen wollen, aber nicht zu sagen gewagt habe) anstachelt. Wie in einem modernen Montage-Roman mischen sich Wirklichkeitsfetzen mit dem wirren Bewusstseinsstrom Annas, als sie mit der Kutsche zum Bahnhof rast, von einem Strudel mitgerissen, den sie nicht mehr steuern kann. Sie fährt ein Stück mit der Bahn, steigt an der Station, wo Wronskij seine Mutter besucht, aus, weiß nicht mehr, was sie nun machen soll, irrt auf dem Bahnsteig herum, innerlich brodelnd und kaum mehr Herr ihrer Sinne, steht plötzlich am Ende des Bahnsteigs, klettert zu den Schienen hinab, ein Zug kommt heran, sie lässt ihre Reisetasche fallen und wirft sich gezielt zwischen die Räder eines Waggons. Ein gewaltiger Schlag trifft sie. Ende. Des siebten Teils. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Tolstois Roman dazu beigetragen hat, Selbstmord nicht mehr (nur) als schuldhaftes Verhalten zu sehen, sondern eher als Ergebnis eines Zustandes geistiger Verwirrung. (Von wenigen, wohlüberlegten Selbstmorden abgesehen.)

Im achten Teil, der zwei Monate nach Annas Tod spielt, erfährt man, was sich nach dem Tod Annas entwickelt:

Wronskij ist völlig zerstört, will sein Leben aber wenigstens für etwas „Sinnvolles“ hingeben, daher zieht er in den Krieg gegen die Türken. (Mir fällt da ein anderer großer Roman ein, wo der Held am Ende in den Krieg zieht: Thomas Manns „Zauberberg“. Ob da ein Zusammenhang besteht?)

Der Roman schließt aber mit einer Szene auf dem Landgut Lewins, womit die guten Kräfte im Endeffekt die Oberhand behalten. Und damit zur zweiten großen Handlung des Romans:

Lewin und Kitty

Konstantin Lewin, genannt Kostja, ist ein guter Freund des Bruders von Anna, Stiwa, der wiederum mit Dolly verheiratet ist (wir lernen sie gleich zu Beginn kennen, wo Dolly in heller Aufregung ist, weil sie draufgekommen ist, dass Stiwa sie betrügt, und Anna überredet sie, bei ihrem Mann zu bleiben), die eine jüngere Schwester namens Kitty hat, in die Lewin verliebt ist. Diese hat aber gerade ein Auge auf den jungen Grafen Wronskij geworfen, der vor allem der Mutter als wünschenswerter Zukünftiger erscheint, während Lewin da weniger hoch im Kurs steht.

Lewin wagt es dennoch, Kitty einen Heiratsantrag zu machen, wird aber abgewiesen. Erst ein Jahr später, als sich die Wronskij-Sache ja längst erledigt hat, erhört sie Lewin, der sich mühsam durchgerungen hat, die Schmach der ersten Abweisung hinunterzuschlucken und die inzwischen vor Kummer ganz kranke Kitty neuerlich um ihre Hand zu bitten. Diesmal willigt sie ein – und es entsteht nach der Hochzeit ein immer ersprießlicheres Leben auf Lewins Landgut.

Lewin hat viele Eigenschaften, die ihn sympathisch machen: Er ist ein ernsthafter Mensch, der jede Heuchelei verabscheut, er grübelt über Gott und die Welt nach – kommt in dieser Hinsicht auch im letzten Teil des Romans zu einer wichtigen Erkenntnis; er möchte seinen Landleuten ein guter Gutsherr sein; er liebt Kitty uneingeschränkt, mehr, als sie sich selbst vorstellen kann; er liebt die Natur (wozu damals auch eine große Begeisterung für die Jagd gehörte), er arbeitet sogar gelegentlich selbst mit der Sense, gemeinsam mit seinen Bauern, und kommt dabei in einen richtigen „Flow“ des Grasmähens hinein, der ihn glücklich macht.

Lewins Erkenntnis am Schluss finde ich interessant: Er fühlt sich ja als Agnostiker, als aber Kitty in Geburtswehen liegt und entsetzlich schreit, betet er plötzlich inbrünstig zu Gott. Dieses Faktum erschüttert seinen Unglauben. Als er dann noch von einem Bauern gesagt bekommen, dass es nur darauf ankomme, das Gute zu tun, und Lewin sei einer, der immer nur Gutes tue, da dämmert ihm, dass sein Unglaube nur eine intellektuelle Sache ist, er aber instinktiv richtig, nämlich gut und gläubig, gelebt hat, und so will er nun auch bewusst leben. Mit dieser Erkenntnis – und der gleichzeitigen, dass das nun nicht heißt, das Leben werde konfliktfrei ablaufen – endet der Roman.

Tolstoi berührt in diesem Roman sehr viele Lebenssphären und schildert sie zum Teil schon mit satirischen Einschlag, etwa wenn es um das Verhalten der Politiker, Beamten, Gesellschaftslöwen und -löwinnen oder der scheinheiligen „Gutmenschen“ geht.

Lachen über solche satirischen Stellen und Weinen über manches Rührende liegen da oft nicht weit auseinander. Wie im wirklichen Leben, ist man versucht zu sagen.

Und genau so stelle ich mir einen „großen Roman“ vor: lebensprall, vielfigurig, gedankenschwer, abwechslungsreich, packend.

Lew N. Tolstoi: Anna Karenina. Winkler Verlag, München, 8. Aufl, 1989. Reihe: Winkler Weltliteratur. 970 Seiten (ohne Nachwort), 1019 Seiten (mit Nachwort).

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