Archiv der Kategorie: Science Fiction

Marc Elsberg: Zero. Sie wissen, was du tust

Wolfgang Krisai: Frau am Brooklyn Pier. Tuschestift, Buntstift, 2016.

Eigentlich hätte ich Marc Elsbergs Roman „Zero. Sie wissen, was du tust“ sofort nach seinem Erscheinen 2014 lesen sollen. Denn Bücher wie diese, die sich mit aktuellen Phänomenen befassen, könnten leicht veralten. In diesem Fall ist es aber nicht so, denn der Roman ist so aktuell wie bei seinem Erscheinen, ja vielleicht noch aktueller, weil wir inzwischen der darin beschriebenen Zukunft näher gekommen sind: dem völligen Überwachungs- … ja, was? „Überwachungsstaat“ trifft  das, was hier beschrieben wird, nicht ganz. Natürlich, der Staat, insbesondere die Polizei und die Geheimdienste, bedient sich der Überwachungsmöglichkeiten, die das Internet, die allgegenwärtigen Überwachungskameras im öffentlichen Raum, die Smartphones, Smart-Watches und Datenbrillen bieten, aber nicht nur der Staat, sondern auch andere „Interessenten“ an den Daten der Bürger treten als Nutzer auf: Firmen, die die Daten weiterverkaufen, Unternehmen, die damit Geschäft machen wollen, dass sie die Menschen beeinflussen können – und solche, die dies alles nur zum Besten der eigenen Kunden machen wollen.

Das Leben per Software verbessern

Solch ein Unternehmen steht im Mittelpunkt des Romans: Freemee. Dieses Software-Unternehmen bietet seinen Kunden sogenannte ActApps an, mit deren Hilfe sie ihr Leben verbessern können.

Cynthia Bonsant (sprechender Name! „Gut und heilig“, klingt aber auch wie eine Pharmafirma), die Hauptfigur, hat eine Tochter namens Viola, die sich in den Monaten vor dem Einsetzen der Handlung vom gruftigen Goth zur attraktiven, erfolgreichen jungen Dame gemausert hat. Die Mutter freut sich, als sie allerdings im Lauf des Romans erfährt, was der Grund für die Veränderung ist, freut sie sich wieder weniger: Es sind die Lebensanweisungen, die Vi von den ActApps auf Schritt und Tritt erhält. Damit der User den Anweisungen folgt, hat Freemee ein ausgeklügeltes System von Anreizen erfunden, von denen starke Motivationskraft ausgeht. Man kann erfolgreicher werden, nicht nur in Schule und Beruf, sondern vor allem auch bei potentiellen Liebespartnern. Ein durchtrainierter Körper hilft da (man nehme: Fitness-ActApps) genauso wie die richtige Körpersprache und die richtigen Worte (auch dafür gibt es ActApps). Die Apps treten in Form charmanter virtueller „Charaktere“ oder besser „RoboterInnen“ in Erscheinung, die der Userin bzw. dem User die Anweisungen vorschlagen. Man wird zu nichts gezwungen – aber man erfährt immer rechtzeitig, was man versäumt oder was die negativen Folgen sind, wenn man der ActApp nicht folgt. Der Erfolg wird in Prozenten gemessen („Sie haben 18% Chancen auf eine Liebesnacht“), die eigene Position wird in allerlei Rankings festgelegt.

Die Versuchung eines Programmierers

Im Roman erliegt allerdings das Superhirn hinter den ActApps, der Programmierer Carl Montik, der Versuchung, auszutesten, wie weit die NutzerInnen den ActApps folgen. Seine Experimente haben in der Vergangenheit zum Tod zahlreicher Freemee-Kunden geführt, die sich von ActApps in krasse Selbstüberschätzung oder in Depressionen wegen Nichterreichens der Ziele treiben ließen. Als sogar ein Vorstandmitglied Opfer der eigenen manipulierten ActApps wird, fährt Carl jedoch seine Experimente etwas zurück.

Es gibt jedoch einen Gegenspieler all der Datenüberwacher, -manipulatoren und -missbraucher: „Zero“, ein Team anonymer Mahner im Internet, deren Slogan an einen alten Spruch aus dem antiken Rom erinnert: „Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Datenkraken zerschlagen gehören“.

Der von Drohnen verfolgte US-Präsident

Der Roman beginnt äußerst wirksam mit einem spektakulären „Auftritt“ von Zero: Ein Schwarm von Zero gesteuerte Drohnen dringt in den Privatgarten des amerikanischen Präsidenten ein und verfolgt ihn sogar bis ins Innere des Weißen Hauses, wo die Sicherheitsbeamten schließlich die Drohnen unschädlich machen können. Der ganze Überfall wird live im Internet übertragen.

Damit hat Zero, der vorher nur durch wenig breitenwirksame kritische Youtube-Videos in Erscheinung getreten ist, einen Quantensprung an Popularität gemacht. Und er ist ins Fadenkreuz der NSA und des FBI geraten.

Während diese Institutionen die realen Leute hinter Zero – erfolglos – ausfindig machen wollen, wollen Freemee und die Online-Redaktion der Zeitung „Daily“, bei der Cynthia Bonsant angestellt ist, von der möglichst langen Suche nach Zero profitieren und ihre Nutzerzahlen steigern.

Die tödliche Datenbrille

Parallel zu der Zero-Handlung entwickelt sich ein weiterer Handlungsstrang: Darin geht es direkt um die ActApps von Freemee. Als nämlich Cynthia eine der Redaktion gehörige Datenbrille an ihre Tochter verleiht, hat diese nichts besseres zu tun, als diese Brille auf der Straße zu nutzen, um mittels Gesichtserkennungssoftware die Personen in ihrer Umgebung zu identifizieren. Da funktioniert erstaunlich gut, und die Datenbrille zaubert Vi zu fast allen Personen Namen, Beruf, Alter, Wohnort, etc. auf den Brillen-Bildschirm. Sie borgt die Brille auch einem ihrer Freunde, Adam, und dieser identifiziert einen zufällig des Weges kommenden Schwerverbrecher. Die Jugendlichen alarmieren die Polizei und nehmen die Verfolgung des Verbrechers auf. Dieser bekommt das schließlich mit, zückt eine Pistole und erschießt Vi’s Freund. Gleichzeit wird aber er selbst von einer ankommenden Polizeistreife niedergeschossen.

Warum Adam, der noch vor kurzer Zeit ein pummeliger Zauderer war, plötzlich so unbeirrbar hinter dem Verbrecher her war, fragt Cyn sich bald. Von Vi wird sie in die Geheimnisse der ActApps eingeweiht, von denen sie noch keine Ahnung hat. Die „Daily“ setzt sie auf die Gefahren, die von Freemee ausgehen, an, weshalb sie sich selbst einmal versuchsweise in Freemee-Konto anlegt und eine Liebes-App ausprobiert.

Der betörend schöne Mitarbeiter

Sie ist nämlich geschieden und seit Längerem erfolglos auf Partnersuche. Nun muss sie in der Redaktion mit einem indischen IT-Spezialisten, Chandor Akarwal, zusammenarbeiten, der hinreißend schön ist. Mit Hilfe von Peggy, des virtuellen ActApp-Avatars, die ihr sagt, wie sie bei Chandor Erfolg haben kann, gewinnt sie diesen erstaunlich schnell für sich, zumindest für eine beschwipste Liebesnacht.

Die verschlungene Handlung noch weiter nachzuerzählen wäre zu langwierig. Der Leser muss sich sehr anstrengen, um nicht völlig den Überblick zu verlieren über all die Gruppen von Geheimdienstlern und IT-Spezialisten, die in den kurzen Kapiteln, die in guter Thriller-Manier immer mit einem kleinen Cliffhänger abbrechen, auftreten.

Schauplatz Museumsquartier, Wien

Für mich als Österreicher war besonders der in Wien spielende Abschnitt interessant: Im Innenhof des Museumsquartiers können Cyn, Akarwal und ihr Chef nämlich einen Zero-Vertreter orten, der sich dort ins Internet einloggt. Sie wollen ihn ansprechen, er bekommt das aber spitz und flüchtet. Und plötzlich verfolgen ihn nicht nur Cyn und Akarwal, sondern auch ein Dutzend weniger harmlose Killertypen. Zero flüchtet in Wiens „Unterwelt“, in die Kanalisation. Der „dritte Mann“ lässt grüßen!

Cyn verfolgt den Mann in die Kanalisation, wird dort aber von jemandem fast ersäuft, von dem Zero-Typ aber gerettet. Deshalb schwört sie in einem Online-Video der Suche nach Zero ab, wechselt also die Seiten.

Showdown in New York

Zum Showdown kommt es in New York, wo Cyn und Chandor hinfliegen, um bei einer Talkshow über Freemee zu reden. Cyn hat inzwischen von einem Freund Vi’s erfahren, dass Freemee Tausende Menschen auf dem Gewissen hat.

Freemee lässt den Burschen rasch ausschalten. Aber zu spät. Cyn und Chandor kommen dahinter, was da gelaufen ist, und werden dadurch selbst zu Verfolgten. Chandor wird im Hotelzimmer erschlagen, Cyn flieht durch New York, zum Teil durch das dortige Kanalsystem, und rettet sich nur dadurch, dass sie einen Passanten dazu bringt, sie zu filmen und diesen Film live ins Internet zu übertragen. Cyn erzählt in aller Kürze von den tödlichen Manipulationen Freemees, bevor sie von der Polizei festgenommen wird, die glaubt, sie hätte Chandor umgebracht.

Da sich aber – da sind die genauen Ortungsmöglichkeiten von Handys wieder ein Segen – herausstellt, dass Cyn Chandor nicht umgebracht haben kann, weil sie zum Zeitpunkt des Mordes bereits auf der Flucht war, glaubt die Polizei ihr. Freemees Machenschaften werden aufgedeckt, Cyn freigelassen, Zero wird als wichtiger Aufdecker bejubelt, Happy End.

Die „Crowd“

Oder fast. Denn die Botschaft des Romans ist zwiespältig: Das Internet und die Totalüberwachung kann gut oder schlecht sein, je nachdem. Die Rettung sieht der Autor offenbar eher in der „Crowd“, in den Milliarden Nutzern, die, wenn sie sich zusammentun, das Gute fördern und das Böse stoppen können. Hoffen wir, dass er sich hier nicht irrt.

Marc Elsberg: Zero. Sie wissen, was du tust. Roman. Blanvalet, München, 2014. 480 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Frau am Brooklyn Pier. Tuschestift, Buntstift, 2016.

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Andy Weir: Der Marsianer

Wolfgang Krisai: Auf einem fremden Planeten. Abklatschtechnik und Collage.Wieder einmal ein angenehm spannender Science-fiction-Roman: „Der Marsianer“ von Andy Weir. Bei diesem 500-Seiten-Roman handelt es sich um eine Robinsonade des 21. Jahrhunderts: Ein Astronaut wird bei einer Marsmission allein auf dem Roten Planeten zurückgelassen, weil seine Kollegen ihn für tot halten. Doch Mark Watney ist nicht tot, nur verletzt. Als seine Crew-KollegInnen per MRM (Mars-Rückkehr-Modul) zum Mutterschiff aufgestiegen sind, wacht Watney aus der Bewusstlosigkeit auf und stellt fest: die Antenne, die ihn während des Sturms, vor dem die Crew flüchten musste, getroffen hat, steckt zwar in seiner Hüfte, das Blut hat aber den Raumanzug notdürftig verschlossen, sodass er sich in die „Wohnkuppel“ zurückschleppen kann.

Ein Robinson auf dem Mars

Wie weiland Robinson macht sich Watney – zum Vorteil für den Leser – als allererstes daran, von nun an alles in einem Mars-Logbuch festzuhalten, das er in einen Computer tippt. Minutiös genau erfahren wir also, was Watney alles ausheckt, um zunächst am Leben zu bleiben und schließlich zu jenem bereits auf dem Mars abgestellten MRM zu gelangen, mit dem in vier Jahren eine weitere Crew vom Mars zur Erde zurückkehren soll.

Bis dahin hofft er, mittels einer mühsam angelegten Kartoffelkultur und einiger Vorräte sowie aus Raketentreibstoff gewonnenen Wassers überleben zu können.

Hoffnung auf Bergung

Der Roman besteht jedoch nicht nur aus Watneys Tagebucheintragungen, sondern ab Seite 77 kommt Schauplatz Erde hinzu. Auf Satellitenfotos ist nämlich, wie eine aufmerksame NASA-Mitarbeiterin bemerkt, deutlich zu erkennen, dass Watney noch leben muss und sich auf dem Mars irgendwie einrichtet. Damit besteht für die NASA die Hoffnung, ihn lebend bergen zu können. Nur wie?

Es dauert einige Zeit, bis Watney in der Lage ist, mit einem seiner beiden Mars-Rover zu einer ausgedienten Marssonde zu gelangen, die ein noch funktionierendes Funkgerät hat, mit dem er Kontakt zur Erde aufnehmen kann.

Watney vermasselt es – fast

Nun arbeiten Watney und NASA an einer Rettungsaktion. Watney vermasselt das allerdings fast, da er durch einen Kurzschluss das Funkgerät ruiniert. Nun ist er wieder auf sich allein gestellt. Einziger Unterschied: Mittels aus Steinen aufgelegten Morsezeichen, die auf Satellitenbildern zu erkennen sind, kann er der NASA kurze Mitteilungen machen.

Auf der Erde arbeiten unzählige Spezialisten daran, Watney zu retten. Der Roman thematisiert auch die Frage der Rentabilität so einer kostenintensiven Rettungsaktion: Der Mensch sei von Natur aus so angelegt, dass er ohne Rücksicht auf den Aufwand einen anderen, der in Not geraten ist, hilft. Nun ist das eben die teuerste und schwierigste Rettungsaktion der Weltgeschichte.

Die Crew auf dem Mutterschiff, das inzwischen schon wieder auf dem Heimweg zu Erde ist, kann übrigens ihren „Fehler“ wieder gutmachen und zum Mars zurückfliegen, um Watney heimzuholen.

Immer neue Zwischenfälle

Andy Weir bedient sich vor allem zweier Mittel, um den Leser bei der Stange zu halten:

Erstens geschickt eingesetzter und einfallsreicher Spannungssteigerung durch immer neue Zwischenfälle. Kaum atmet man auf, weil ein Unbill überstanden ist, bricht schon das nächste über den Marsianer herein. Natürlich weiß man: Dieser Roman muss gut ausgehen. Aber wie? Das macht die Spannung aus.

Unverwüstlicher Humor

Zweitens ist da Mark Watneys unverwüstlicher Humor, der für Heiterkeit trotz aller Gefahr sorgt. Dennoch ist Watney kein trottelhafter Witzbold, das wäre für einen Astronauten wenig glaubwürdig, sondern ein intelligenter Kerl, der seine Kenntnisse als Botaniker und Ingenieur geschickt einsetzt, aber nicht zuletzt wegen seines optimistischen Gemüts von der NASA für die Marsmission ausgewählt wurde. Dadurch unterscheidet sich Watney auch von seinem „Vorfahren“ Robinson, denn Defoes berühmter Held hat viele gute Eigenschaften, aber Humor, so weit ich mich erinnere, überhaupt nicht.

Die Verfilmung

Ich habe mir inzwischen die Verfilmung des Romans (Regie: Ridley Scott) angesehen. Interessant: Während sich der Film ziemlich getreu an die erste Hälfte des Romans hält, wird der Rest radikal zusammengestrichen. Im Film ruiniert Watney nämlich das Funkgerät nicht, wäre also weiterhin in direktem Kontakt mit der NASA, nur spielt das ab dann kaum noch eine Rolle. Der Film funktioniert trotzdem, allerdings bedauert man als Leser des Romans, dass viele interessante und spannende Momente aus dem Roman im Film nicht vorkommen. Dafür gibt es eine Art Epilog, der wiederum im Buch nicht vorkommt. Sehen wir es so: Wer zuerst den Film sieht, kann den Roman danach immer noch mit Spannung lesen.

Andy Weir: Der Marsianer. Rettet Mark Watney. Roman. Heyne-TB. Heyne, München, 2015. Amerikanisches Original: 2011. 508 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Auf einem fremden Planeten. Abklatschtechnik und Collage. – Dieses Bild fertigte ich vor vielen Jahren als Beispiel für den praktischen Kunstunterricht an.

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Martin Burckhardt: Score

Gratzen RadarturmMartin Burckhardts Zukunftsroman „Score“ fängt mit einem Paukenschlag an: In der Firma Nollet muss Damian Christie, ein Angestellter, einen anderen Angestellten namens Castoriadis befragen, warum dessen „Score“, also seine gesellschaftliche Wertigkeit, in den letzten Tagen plötzlich so tief gefallen sei. Doch der Mann stiert nur vor sich hin, bittet um ein Glas Wasser, stürzt es hinunter, und wenige Minuten später treten ihm aus den Augen und aus allen Poren Blutstropfen und er sinkt tot zu Boden.

Eigentlich sollte Damian den Vorfall möglichst rasch vergessen, damit keine posttraumatischen Störungen auftreten, befindet die Firma, daher soll er eine Vergessenspille schlucken. Doch Damian, der bisher bedingungslos an die Firma geglaubt hat, beschleichen Zweifel und er nimmt die Pille nicht.

Das Szenario: typische Dystopie

Was ist da los? Nach und nach erfährt der Leser die Situation, in der der Roman spielt: Man schreibt das Jahr 2039, Hauptschauplatz ist Berlin, wo sich die Firma Nollet angesiedelt hat, die mit ihrer Idee, alle Menschen glücklich zu machen, indem man sie dauerhaft in eine Art Computerspiel versetzt, alle jene Teile der Welt beherrscht, die dem „ECO-System“ angehören. Das sind Städte und Gegenden, in denen alles computerisiert läuft und von Nollet gesteuert wird. Der größere Teil der Welt, auch Deutschlands, ist allerdings draußen und heißt „Zone“, dort leben die Menschen in primitiver Anarchie, ohne funktionierendes Rechtssystem und ohne die Annehmlichkeiten der Nollet-Zivilisation. Die Idee, die Welt in zwei diametral entgegengesetzte Lager zu teilen, ist nicht gerade originell, sondern schon fast ein Topos von dystopischen Zukunftsromanen. Gerade habe ich Martin Walkers Roman „Germany 2064“ gelesen, wo das auch so ist.

Damit das ECO-System reibungslos funktioniert, müssen Menschen, die abweichlerische Tendenzen zeigen, entweder kuriert oder ausgeschaltet werden. Dazu ist der Geheimdienst von Nollet da, der alles und jeden vollautomatisch überwacht und gegebenenfalls bestraft. Eine mögliche Strafe ist der Abzug von Gutpunkten vom persönlichen Score der betroffenen Person.

Offiziell gilt das Computerprogramm, das diesen Score reguliert, als absolut sicher, daher vertrauen ihm die Menschen so sehr, dass die Score-Punkte zu einer Art Währung geworden sind. Wenn man von jemandem etwas will oder kauft, sinkt der Score, wenn man zu jemandem nett ist, steigt er wieder. Schon ein begehrlicher Blick auf eine Frau führt, sofern er nicht willkommen ist, zu einer Abbuchung.

Damit das Computerprogramm den Score gerecht vergeben kann, registriert es alles, was die Menschen denken, tun und fühlen. Diese Daten sind in einem ebenso manipulationssicheren „Lifestream“ gespeichert – glaubt man.

Damian, der Mitglied der „Social Design Planning Group“ von Nollet ist, kann von Berufs wegen die Lifestreams anderer Menschen bei Bedarf ansehen.

Eigentlich unmögliche Manipulationen

Als er sich den Lifestream des verstorbenen Castoriadis noch einmal ganz genau durchsieht, entdeckt er, dass dieser manipuliert wurde und nun eine geheime „Botschaft“ eincodiert hat, das Wort „Assassin“. Wenn der Lifestream gehackt ist, ist es auch kein Wunder, dass auch Castoriadis’ Score manipuliert wurde, weshalb er so ins Bodenlose gefallen ist.

Als Damian dies klar wird, kann er es aber der Firma nicht mehr mitteilen, denn er wurde für einige Zeit zur Erholung vom Dienst suspendiert und kann nun nicht mehr ins Büro und hat keinen Datenzugang mehr.

Es entwickelt sich nun nach und nach ein Schreckensszenario rund um Damian: Er wird verfolgt, bedroht, von Nollet-Feinden vereinnahmt und dazu gezwungen, der Firma zu schaden.

Ein weiterer Handlungsstrang dreht sich um das Vorhaben Nollets, die Menschen zumindest virtuell unsterblich zu machen, indem man von ihnen eine Art Avatar erzeugt. Vorgeführt wird das an dem elektronischen „Nachbild“ des Firmengründers Cheng.

Nach dessen Tod ist nun Khan der Chef von Nollet. Er ist ein Alphatyp ersten Ranges: wuchtige Gestalt, unglaubliche Willenskraft, aber auch berserkerhafte Wutausbrüche. Khan steht über dem Gesetz des ECO-Systems, unterhält gute Kontakte zur „Zone“, offenbar in zweierlei Absicht: um dort Leute für dubiose Vorhaben von Nollet rekrutieren zu können und andererseits die Menschen in der „Zone“ nach und nach für das ECO-System zu gewinnen.

Khan ist Damians Gönner und lädt ihn ein, mit ihm in die Zone zu fahren. Damian unterhält außerdem eine nicht allzu innige Liebesbeziehung zu Khans Tochter Justine, die ein labiles, verwöhntes Wesen ist.

Der gemeinsame Aufenthalt in der Zone muss vorzeitig abgebrochen werden, da Khan mit einem Attentat gedroht wird.

Auch ein zweiter, allerdings von dem Nollet-Feind Munro erzwungene Besuch in der Zone endet schlimm: einer der mit Damian hinübergereist seienden Leute wird bei der Rückkehr von einer winzigen Drohne getötet.

Einer einzigen Person in der Firma traut Damian noch zu, dort für Recht und Ordnung sorgen zu können, das ist Carlotta di Broca, die er seit vielen Jahren kennt und der er absolut vertraut. Auch Khan vertraut ihr, was beiden zum Schluss zum Verhängnis wird. (Ich erzähle ausnahmsweise nicht, wie es weitergeht.)

Der redselige Heimroboter

Neben der Haupthandlung gibt es diverse weitere Handlungsstränge und Figuren. Ein nettes Beispiel ist Damians Home-Bot, ein Heimroboter, der als praktische, aber leider redselige Haushaltshilfe fungiert. Und schließlich von einem brutalen Eindringling kaputtgeschlagen wird, weil er den Mund nicht halten kann. Der Kerl schlägt übrigens gleich darauf auch den nach Hause kommenden Damian krankenhausreif, um ihn gefügig zu machen. Als er wieder halbwegs hergestellt ist, bestellt Damian dann einen neuen Homebot, der kurz darauf per Drohne geliefert wird und sich als nützlich, aber viel schweigsamer erweist.

Ehrgeiziger Erstlingsroman

Das Buch ist der ehrgeizige Erstlingsroman seines Autors, der eigentlich Verleger, Audio-Künstler, Essayist, Kulturtheoretiker und Programmierer ist, wie man aus seiner Vita erfährt. Vielleicht ist das der Grund, warum er mit philosophischem Ballast … Pardon: Gedankengut ziemlich überladen ist. Dabei ist der Grundgedanke, auf dem Nollets Geschäftsidee fußt, doch für einen Schiller-Fan attraktiv: „Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt“ (sinngemäß nach Schiller, „Die Erziehung des Menschengeschlechts“). Nollet macht gerade das möglich: Das ganze Leben ist ein Spiel.

Als Medientheoretiker denkt Burckhardt in diesem Roman weiter, was sich an Möglichkeiten der digitalen Welt heute schon abzeichnet. Zu allererst die totale Überwachung, der aber, das ist das Erstaunliche, die Menschen unreflektiert zustimmen, sozusagen unter dem Motto: Warum soll ich Google / Nollet nicht alle meine Daten zeigen, dann bekomme ich wenigstens Werbung bzw. Glücksangebote, die genau zu mir passen? Durch die totale Digitalisierung der Welt spielen sich natürlich auch die Verbrechen zu einem nicht geringen Teil – wenn man vom immer noch gängigen realen Mord mal absieht – im Cyberspace ab. 2039 ist es auch nicht anders als heute und früher: Das Glück ist nicht für alle, sondern nur für wenige, und der Rest der Menschheit muss darben.

Stilistische Eigenheit

Stilistisch hat der Roman eine Eigenheit, die das Lesen ein wenig erschwert: Burckhardt liebt Satzkonstruktionen wie: „Hatten sich diese Stimmen zu Anfang mit Gewalt und Terroranschlägen Gehör verschafft, so waren auch die ärgsten Kritiker weitgehend verstummt.“ (S. 37f) Das ist dank des „so“ noch leicht zu durchschauen. Burckhardt lässt das „so“ aber gern weg: „Fand jemand ein besondere Befriedigung darin, andere Menschen zu unterrichten, durchlief er die entsprechenden Levels und war ab einem bestimmten Grad tatsächlich als Lehrer einsetzbar.“ (S. 38) Oder: „Mochten die Bewegungen des Körpers auch selbstverliebt scheinen, begriff Damian schnell, dass sie allein ihm galten.“ (S. 39) Das sind Satzkonstruktionen, die im Normalfall in dieser Form eher selten, bei Burckhardt jedoch gehäuft auftreten (nicht nur auf den Seiten 37-39, wo ich jetzt willkürlich nach Beispielen gesucht habe und gleich fündig geworden bin).

Abgesehen davon ist Burckhardts Stil aber gut lesbar und lebendig.

Martin Burckhardt: Score. Roman. Knaus-Verlag, München, 2015. 351 Seiten.

Martin Burckhardt äußert sich in seinem Blog in einem Frage- und Antwort-Spiel zum Roman und zu dessen gedanklichen Hintergründen: http://burckhardt.ludicmedia.de/#blog_54b4f381c9c751342e505c32

Bild: Wolfgang Krisai: Überwachungsturm in Tschechien. Aquarell, 2008.

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Marc Elsberg: Blackout

Wolfgang Krisai: E-Werk in Perchtoldsdorf bei Wien, Tuschestift, Buntstift, 2013.

Unauffällig und doch so wichtig: ein Elektrizitätswerk.

Schon vor einiger Zeit habe ich den Anfang dieses Buches gelesen und ihn so spannend gefunden, dass ich das ganze Buch unbedingt lesen wollte. In den Osterferien war dafür Zeit, und ich habe den Ziegel innerhalb von drei Tagen ausgelesen. Das ist der Vorteil spannender Lektüre: Sie liest sich wie von selbst.

In diesem Fall ist die Lektüre aber nicht nur spannend, sondern aufrüttelnd, denn Elsberg macht einem bewusst, wie wenig man auf Katastrophen vorbereitet ist.

14 Tage kein Strom

In diesem Roman ist ein europaweiter Stromausfall die Katastrophe, noch dazu im Winter 2011. Die Energieunternehmen schaffen es 14 Tage lang nicht, das Blackout zu beheben. Was 14 Tage ohne Strom bedeuten, kann man sich zum Teil ausmalen. Elsberg malt das mit Sicherheit aber noch genauer und damit erschreckender aus. Heutzutage hängt ja fast alles von einer funktionierenden Stromzufuhr ab, häufig sogar die Wasserleitung und die WC-Spülung, von der Heizung ganz zu schweigen.

Ein „guter“ Hacker

Der Roman beginnt wirkungsvoll mit einem Verkehrsunfall in der Nähe von Mailand, der durch den plötzlichen Ausfall der Verkehrsampeln verursacht wird. Piero Manzano kommt zum Glück glimpflich davon, nur sein Wagen ist Schrott.

Piero erweist sich bald als die Hauptfigur des Romans. Er ist ein „guter“ Hacker, hat Sicherheitslücken in Computern aufgezeigt und gegen den G8-Gipfel in Genua demonstriert, wo er Opfer polizeilicher Willkür wurde.

Nach dem Unfall und einer Erstversorgung schlägt er sich nach Hause durch. Kein Strom auch dort. Im Stiegenhaus Aufregung, weil der Lift zwischen zwei Stockwerken steckengeblieben ist.

Piero verbringt die Nacht mit seinem Nachbarn Bondoni, einem alten Herren. Die beiden entdecken, dass auf dem kürzlich neu installierten Stromzähler, einem „Smart Meter“, ein seltsamer Code zu sehen ist. Piero ruft ihn in einem Internetforum auf – und siehe da, es ist ein Code, mit dem man dem betreffenden Haushalt den Strom abschalten kann. Aber dieser Code sollte in Italien, wie Piero weiß, nicht zum Einsatz kommen. Da derselbe Code auch auf Bondonis Zähler erscheint, schwant Piero Übles. Er vermutet, jemand habe sich in das Steuerungsnetzwerk der Zähler hineingehackt und diese landesweit abgestellt, sodass das Stromnetz aus dem Gleichgewicht kam und es zu Notabschaltungen kam.

Am nächsten Morgen will er das der staatlichen Stromgesellschaft mitteilen, doch dort will man nichts von ihm wissen. Also sagt er es Journalisten, die vor dem Gebäude warten.

Inzwischen ist praktisch in ganz Europa außer in Russland der Strom ausgefallen.

Ybbs-Persenbeug

Der Handlungsstrang um Piero wird durch viele weitere Handlungsstränge ergänzt. Zum Beispiel jenem, der im Kraftwerk Ybbs-Persenbeug spielt, wo die Computer ständig Fehlermeldungen ausgeben, die zu Abschaltungen führen, obwohl die Generatoren eigentlich in Ordnung sind. Auch hier, so stellt sich im Lauf des Romans heraus, ist das Computersystem manipuliert.

Ein weiterer Handlungsstrang spielt in einem französischen Kernkraftwerk, dessen Notkühlsystem, das bei Stromausfall mit Dieselgeneratoren betrieben wird und eine Kernschmelze verhindern soll, nicht ordentlich funktioniert, wodurch es fast zu einem GAU kommt. Radioaktivität tritt aus, die Umgebung muss evakuiert werden (was bei ausgefallenem Strom nicht so einfach ist).

Dann gibt es da die Familie Bollard. Der Vater ist bei Europol in Den Haag beschäftigt, Frau und zwei Kinder schickt er bald aufs Land in einen Bauernhof, der autark ist und daher ein normales Leben ermöglicht. Solange er noch nicht von frierenden und hungernden Leuten belagert wird. Seine Schwiegereltern schickt Bollard, als er feststellt, dass der Stromausfall länger dauern wird, zu seinen eigenen Eltern an die Loire, wo diese ebenfalls auf einem Bauernhof leben. Ausgerechnet ganz in der Nähe des havarierten Kernkraftwerks, aber davon weiß Bollard noch nichts.

Vier lustige Ladys

Wichtig ist auch eine lustige Truppe von vier jungen Frauen, die bei der EU in Brüssel beschäftigt sind und jetzt nach Tirol auf Schi-Urlaub fahren. Die Tankstellen an der Autobahn funktionieren nicht. Eher zufällig gelangen sie dann doch an Benzin: Sie fahren ab, kommen zu einem Bauernhof, wo die Bauern verzweifelt sind, weil die Melkmaschine nicht geht. Die Kühe müssen aber unbedingt gemolken werden. Die vier Damen helfen mit, händisch zu melken, dafür zapft ihnen der Bauer aus seinem eigenen Tank ein paar Liter Benzin ab. So kommen sie doch noch bis nach Ischgl in ihre Hütte, die zum Glück mit Holz geheizt wird und auch einen Holz-Herd hat, sodass dort Schnee geschmolzen und erwärmt werden kann und es folglich sogar Warmwasser gibt. Bondonis Tochter Lara ist eine der vier. Da Manzano beim Stormversorger abgeblitzt ist, fährt er mit Bondoni in dessen Auto kurzerhand nach Ischgl zu dessen Tochter, damit diese in Brüssel Alarm schlägt. Es gelingt ihnen tatsächlich, zu den vier Frauen vorzudringen, diese zu überzeugen, dass an Manzanos Entdeckung etwas dran ist, und Brüssel zu alarmieren. Dort wird man endlich hellhörig, alarmiert Europol, wo Bollard die Sache übernimmt und findet, man solle diesen Manzano doch am besten nach Den Haag holen und sich von ihm unterstützen lassen. Außerdem habe man ihn dann unter Kontrolle.

Spannend, kenntnisreich, gut recherchiert

Eigentlich würde ich gerne weitererzählen, doch bei einem Thriller passt das wirklich nicht. Daher verrate ich nicht noch mehr, sondern sage nur:

Wunderbar spannende, kenntnisreiche und gut recherchierte Unterhaltung mit ernstem Hintergrund. Elsberg schreibt im Nachwort zur Taschenbuchausgabe, dass er im Gefolge des Romans sogar von Energiegesellschaften und staatlichen Stellen zu Diskussionen eingeladen wurde. Hoffen wir, dass diese aus dem Roman gelernt haben. Dennoch weiß man: Vor einer Katastrophe ist man nie ganz gefeit…

Marc Elsberg ist Wiener und in Baden ins Gymnasium gegangen. Meine Frau und ich erlebten ihn im Café Ritter bei der Wiener Kriminacht 2014, wo er über seinen neuen Roman „Zero“ erzählte. Auch sehr interessant und spannend. Muss ich ebenfalls lesen.

Marc Elsberg: Blackout. Morgen ist es zu spät. Roman. Blanvalet, München 2013. 799 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: E-Werk in Perchtoldsdorf bei Wien, Tuschestift, Buntstift, 2013.

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Tad Williams: Otherland

Tad Williams signiert mir die vier "Otherland"-Bände in der Buchhandlung Morawa, Wien, ca. 2006.

Tad Williams signiert mir die vier „Otherland“-Bände in der Buchhandlung Morawa, Wien, ca. 2006.

Vor rund zehn Jahren hatte ich ein gewaltiges Lese-Erlebnis: Ich las den Riesenroman „Otherland“ von Tad Williams, und zwar auf Englisch. Meinen Lese-Eindruck schilderte ich in einer sehr umfangreichen Rezension, die ich auf der Website der Schulbibliothek meiner Schule veröffentlichte. Ich bin überzeugt, man kann auch heute noch von diesem Werk beeindruckt werden, und reposte daher meine Rezension von 2006 hier:

3500 Seiten geschafft

Nun habe ich es geschafft, mich wirklich durch die 3500 Seiten durchzuarbeiten. Zwischen Band zwei und drei lag allerdings eine lange Unterbrechung. Einer meiner Schüler hat mich immer wieder gefragt, ob ich schon weiterlese, und damit hat er sicher dazu beigetragen, dass ich vor einigen Wochen den dritten Band tatsächlich zu Hand genommen habe. Natürlich kann ich mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, aber an viele. Deren das Werk ja eine Überfülle zu bieten hat. Bewundernswerte Ideenflut! Und alles das zusammen ergibt eine wirklich überzeugende Romanwelt, in der der Leser versinkt. Das gehört zu einem großen Roman-Erlebnis einfach dazu. 150 Seiten, ja auch 300 Seiten können das auf keinen Fall ermöglichen, dazu braucht es schon den langen Atem des Autors wie des Lesers. Bei Tad Williams ist daran offenbar kein Mangel. Auch seine anderen Werke sind ja nicht gerade Kurzgeschichten. Otherland spielt zum Teil in der realen Welt, vor allem in Südafrika und Australien, zum Großteil aber in der virtuellen Welt, in einem gigantischen Spezial-Internet, das alle Stückerln spielt und der heutigen Virtual Reality um Lichtjahre überlegen ist. Man kann in diese VR (virtual reality) völlig einsteigen und – entsprechendes Equipment vorausgesetzt – darin wochenlang bleiben und Abenteuer erleben. Man kann von Simulation zu Simulation wechseln, und alle diese Welten wirken auf den, der sich darin befindet, völlig real.

Buschmann nimmt Unterricht in „virtueller Realität“

Die Hauptfigur ist Renie Sulaweyo, eine junge, südafrikanische Uni-Assistentin für „VR“. Sie ist eine recht resolute Frau, die aber auch ein kompliziertes Leben zu meistern hat. Denn ihre Mutter kam ums Leben, ihr Vater ist Säufer, und so muss sie ihn und ihren Bruder Stephen an Mutters statt betreuen. Wenn man, wie ich, das Otherland-Hörspiel des Hessischen Rundfunks gehört hat, dann geht einem die Stimme von Sophie Rois, die die Renie spricht, nicht mehr aus dem Kopf, und diese kratzige Stimme prägt das Bild von Renie. Das ist ein wenig schade, denn so kratzbürstig ist Renie denn auch wieder nicht.

Renie gibt einem der letzten Buschmänner, !Xabbu (mit Rufzeichen voran, das für einen unaussprechlichen Knacklaut steht), Unterricht in VR. !Xabbu kommt aus der Welt der Eingeborenen, hat eine ganz eigenartige Mythologie, von der er oft erzählt, und bildet mit seiner sanften, aber beharrlichen Art einen ausgezeichneten Kontrast zu Renie. Am Schluss, das sei gleich verraten, verlieben sich beide ineinander und wollen zusammen bleiben. Renies Bruder Stephen spielt zwar eine wichtige, aber völlig passive Rolle. Denn er fällt gleich zu Anfang in ein rätselhaftes Koma. Und erst ganz am Schluss beginnt er daraus aufzuwachen. Der ganze Roman ist aber ein Kampf gegen die Ursachen dieses Komas, das nicht nur Stephen, sondern Tausende andere Kinder betroffen hat.

Verzweifelter Soldat im „Ersten Weltkrieg“

Die erste Person, die der Leser kennen lernt, ist Paul Jonas. Er ist im ersten, äußerst beeindruckenden Kapitel ein verzweifelter Soldat im Ersten Weltkrieg. Die Beschreibung der Schützengraben-Situation ist mehr als beklemmend und würde einem Ernst Jünger alle Ehre machen. Sie hat mich jedenfalls stark an „In Stahlgewittern“ erinnert. Paul ist eine im Netz verloren gegangene Person. Sein wirklicher Körper lagert in einem Apparat irgendwo in einem Versuchslabor, aber er kann nicht mehr dorthin zurück, sondern irrt von Simulation zu Simulation.

Er wird von zwei grauenhaften Kerlen verfolgt, der eine lang und dünn, der andere rund und fett, beide ausgesuchte Widerlinge. Sie heißen einmal Finney und Mudd, dann Finch und Mulligan, usw. Sie sollen Pauls habhaft werden, weil seine Existenz im Netzwerk dessen Funktion in Gefahr bringt. Paul wird von einem vogelähnlichen Wesen durch Otherland geführt, das ihm immer wieder an neuralgischen Stellen erscheint. Es ist sozusagen der „Geist“ von Availle, einer künstlicher hergestellten Tochter Felix Jongleurs, der der reale Paul Jonas lange Zeit Unterricht gegeben hat, die sich in ihn verliebt hat und ihn nun aus der Gefangenschaft in Otherland befreien will.

Netz von Simulationen

Worum geht es in diesem Netz von Simulationen, das „Otherland“ genannt wird? Die Betreiber sind allesamt steinalte und steinreiche Leute, die zum Teil nur noch künstlich am Leben gehalten werden. Doch der Oberste von ihnen, Felix Jongleur, Besitzer von halb Lousiana, hatte die Idee, von den Gehirnen von Menschen, die es sich leisten können, perfekte Kopien anzufertigen, sodass diese nach dem Tod der Originale eine Art ewiges Leben im Netz führen können. Voraussetzung ist natürlich, dass es eine Simulationswelt gibt, die dauerhaft und störungsfrei funktioniert und nur für die vorgesehenen User zugänglich ist. Damit den Leuten im ewigen Leben nicht fad wird, gibt es 64 verschiedene Welten, die alle ziemlich verrückt sind. Eine davon ist zum Beispiel der Erste Weltkrieg, in dem Paul zu Anfang steckt.

Felix Jongleur hat Otherland auf die Beine gestellt, indem er Gehirne von noch nicht geborenen Kindern als Prozessoren verwendet hat. Vor allem ein Kinderhirn, das außergewöhnliche Eigenschaften hat, ist der Kern der Anlage. Es befindet sich, wie man im vierten Band erfährt, in einem die Erde umkreisenden Satelliten. Die Verbindung dorthin stellt ein gewaltiger Laserstrahl her, der Milliarden von Datenströmen transportiert.

Entgegen Jongleurs Absichten hat sich die künstliche Intelligenz in Otherland allerdings verselbständigt und bemächtigt sich allmählich der Steuerung der Simulation. Otherland wächst also wie ein Lebewesen, verändert sich und droht den Erfindern zu entgleiten. So breitet es sich zum Beispiel in immer mehr Bereiche des neben Otherland existierenden „normalen“ Netzwerks aus und ergreift dort von Kinderhirnen Besitz. Die betroffenen Kinder fallen dann in ein Koma, so wie es Stephen passiert ist.

Gralsprozess: unsterblich werden

Jongleur hat vor, zu einem bestimmten Zeitpunkt, wenn Otherland perfekt genug ist, gemeinsam mit allen anderen Mitfinanciers den großen Schritt ins ewige virtuelle Leben zu tun. Er nennt ihn den „Gralsprozess“. In der Realität kommt er einen Selbstmord gleich (der natürlich bei so alten Leuten leicht vertuschbar ist), in der VR soll ab diesem Zeitpunkt die Person weiterleben, ohne noch einen wirklichen Körper zu haben.

Die greisen Kandidaten treffen sich regelmäßig zu Vorbesprechungen im virtuellen alten Ägypten, wo Jongleur als Osiris die Götterherrschaft führt. Seine Kollegen sind ebenfalls Götter. Allerdings finden manche dieses ägyptische Getue schon ziemlich lästig, etwa der alte General Yakubian oder der Besitzer der weltgrößten Internetfirma Telemorphix, Robert Wells. Die beiden sind der Kern einer „Widerstandgruppe“ unter den Gralsprozess-Kandidaten.

Noch ein Widerling

Jongleur hat nicht nur seine beiden Widerlinge Finney und Mudd, die im RL seine Leibwächter waren, auf Paul angesetzt, sondern er hat noch einen dritten Widerling eingeschleust, der ihm im Netz und in der realen Welt gute Dienste leisten soll: den Serien-Sexualmörder Johnny Dread. Dieser bringt reihenweise Frauen um und filmt sich dabei. Jongleur verwendet ihn als ergebenen Diener in Gestalt des Anubis.

Doch Dread hat anderes im Sinn, als bloß Jongleur zu dienen. Er will selbst die Herrschaft in Otherland übernehmen, Jongleur auch in der Realität beerben und im Netz schließlich ewig leben. Dass man nicht zimperlich sein darf, lernt Dread von seinem Auftraggeber, der ihn schon im ersten Band einen Gralsprozess-Kandidaten umlegen lässt. Dread bedient sich dabei der Hilfe einer abgebrühten Agentin namens Dulcie Anwin, die er sich immer höriger macht. Nach ausreichender Benutzung will Dread Dulcie natürlich genüsslich umbringen. Was ihm in Band vier fast gelingt.

Sellars – ein guter Gegenspieler, der Seife isst

Den Bösen steht ein guter Gegenspieler gegenüber: Sellars. Das ist eine militärische Versuchsperson, der mit Chips und Drähten im Körper vollgestopft ist. Seit einem dramatischen Unfall, bei dem Sellars fast verbrannt ist, ist das damalige Projekt allerdings abgeblasen und Sellars, der einzige überlebende Zeuge, steht unter Hausarrest. Er sitzt im Rollstuhl, muss immer in feuchtigkeitsgesättigter Luft leben – oder Seife essen, damit er nicht austrocknet. Aber er hat außergewöhnliche Fähigkeiten: Er kann sich in das Netzwerk einloggen, wann und wo immer er will.

Bei seinen virtuellen Exkursionen hat er Otherland entdeckt und ist den damit verbundenen Gefahren für die Kinder auf die Spur gekommen. Nun will er Otherland zur Raison bringen – und braucht dazu die Hilfe von Komplizen, die er ins Netz einschleust. Er war es, der Paul Jonas aus den Händen Jongleurs befreit hat und im Netz herumschwirren lässt. Da seine militärischen Bewacher von der Sache Wind bekommen könnten, will Sellars sich davonmachen. Immerhin ist General Yakubian ja keineswegs daran interessiert, Otherland von jemandem anderen als den Gralsleuten beherrschen zu lassen. Sellars wohnt in einer Militärbasis, wo auch Christabel Sorensen mit ihren Eltern wohnt. Durch Zufall hat sie Sellars kennen gelernt und schleicht nun oft zu ihm, um sich mit ihm zu unterhalten. Sellars nützt diese Freundschaft, um mit Hilfe Christabels seine Flucht vorzubereiten. Die Flucht gelingt – doch Christabels geheime Aktivitäten werden von ihrem Vater, der just einer der Sicherheitsleute der Militärbasis ist, entdeckt. Da tritt Sellars die Flucht nach vorn an und weiht Major Sorensen und seine Frau in die Gefahr ein – und gewinnt sie damit, auf seine Seite zu wechseln.

Zwei besessene Rollen-Spieler im Netz

Sellars ist der Drahtzieher hinter einer ganzen Gruppe von Menschen, die er im Netz um sich sammelt. Neben Jonas und Renie und !Xabbu gehören noch die beiden anderen Hauptpersonen des Romans dazu: Orlando  Gardiner und Sam Fredericks. Die beiden sind Jugendliche, die die Freizeit fast ausschließlich mit Rollenspielen im Netz verbringen. Orlando ist der große, archaische Kämpfer Thargor, und Fredericks ist sein Kompagnon Pithlit. Schon im ersten Band wird Thargor getötet, als er in einem Höhlengrab ein Abbild einer faszinierenden goldenen Stadt („City of Golden Shadow“) erblickt und dadurch abgelenkt wird. Nun geht Orlando auf die Suche nach dieser Stadt, die ihm das virtuelle Leben gekostet hat. Da er seinen Tod als Folge eines im Spiel nicht erlaubten Geschehens auffasst, ruft er ein Spiel-Gericht an, und bis zur Klärung des Falls darf er weiterhin Thargor bleiben.

Im Lauf des Romans stellt sich heraus, dass Orlando Gardiner ein an einer seltenen Krankheit leidendes Kind ist, das rasend schnell altert. Im dritten Band stirbt sein realer Körper – allerdings hat der „Andere“, the Other, wie der Kern von Otherland schließlich genannt wird, schon eine perfekte Kopie von Orlando gemacht, sodass er ohne realen Körper weiterleben kann, genau, wie es sich die Gralsleute erträumen. Und Sam Fredericks erweist sich als Mädchen, was Orlando zunächst schockiert, doch als er sich daran gewöhnt, entwickelt sich zwischen den beiden eine richtige Liebe, obwohl sie einander im RL nie begegnet sind – und nach Orlandos Tod auch nie begegnen können.

Beezle Bug: die perfekte Suchmaschine

Eine der originellsten Figuren im Roman ist Beezle Bug, ein käferförmiger Gehilfe Orlandos, der eigentlich ein Kinderspielzeug war und als Netzwerk-Agent dient, von Orlando aber im Lauf der Zeit so aufgerüstet wurde, dass er ein richtiger „Watson“ wird, der äußerst geschickt Daten und Informationen aller Art beschaffen kann, der sich aber auch ausgezeichnet in die Psyche seines Herrn einfühlen kann. Als Orlando ganz ins Koma fällt (wie auch Fredericks), ist Beezle der einzige, der noch zu ihm vordringen kann. Der im Dienst der Eltern von Fredericks stehende Rechtsanwalt Catur Ramsey entdeckt die Fähigkeiten Beezles und benützt ihn als rettendes Wesen bei seinen eigenen Forschungen in Otherland.

Das Superhirn – ein blinde Französin

Renie will im Netz nach den Ursachen von Stephens Koma forschen. Doch auch die Eltern einiger anderer Koma-Kinder sind auf diese Idee gekommen. Sellars vereint sie zu einer Gruppe. Das „Superhirn“ dieser Gruppe ist die blinde Französin Martine Desroubins, die irgendwo in Frankreich unterirdisch lebt und im Netzwerk unglaubliche intuitive Fähigkeiten entwickelt, die die Gruppe oft aus argen Gefahren rettet.

Selbstmord eines Netzwerks

Im RL gibt es noch eine Frau, die sich, geführt durch innere Stimmen, auf den Weg macht, um die Kinder zu retten. Es ist dies die VL-Show-Moderatorin Olga Pirowsky. Während sie in den ersten drei Bänden eher eine Randfigur ist, tritt sie im vierten in eine zentrale Rolle: Sie wird von Sellars in Jongleurs Festung in Lousiana eingeschleust und manipuliert dort das Otherland-Netzwerk, sodass Sellars es beherrschen kann. Doch bevor ihm das vollständig gelingt, bringt sich der Otherland-Kern, der sich als das Gehirn eines angeblich tot geborenen Kindes von Olga erweist, selbst um: Er bringt seinen Satelliten zum Absturz, und zwar exakt auf die gewaltige, turmartige Festung von Jongleur, die durch den Einschlag des Satelliten dem Erdboden gleich gemacht wird. Olga stirbt dabei. Doch auf diese Weise ist Otherland ausgeschaltet und kann dem normalen Netzwerk keine Gefahr mehr sein. Am Ende wachen dann die Koma-Kinder der Reihe nach wieder auf, Sellars stirbt und beginnt ebenfalls ein virtuelles ewiges Leben im Netz, und damit gibt es ein Happy End.

Phantastische Simulationen

Das war jetzt ein Vorgriff. Bis es zu diesem Happy End kommt, müssen Helden und Leser unzählige Abenteuer durchstehen. Die erzähle ich hier nicht, denn dann müsste ich lange erzählen. Nur einige Highlights seien erwähnt:

– die lustige Simulation auf dem Mars,

– die Hauswelt im dritten Band, in der die ganze Welt aus einem gigantischen Konglomerat von Häusern besteht und wo Dread Martine in seine Gewalt gebracht hat, die nun von Renie, !Xabbu und ihren Freunden befreit werden muss,

– die Insektenwelt des Japaners Kunohara, wo die Helden sich als ameisengroße Leute erleben und von großen Insekten bedroht werden.

Sieg über die Bösen

Damit ein Happy-End gelingt, müssen die Bösen besiegt werden. Nachdem Jongleur von seiner eigenen Kreatur Dread ausgeschaltet wird, der Otherland an sich reißt und dort aus purem Spaß an der Destruktion das Chaos ausbrechen lässt, muss nun Dread selbst besiegt werden. Dreads Körper befindet sich in Australien in einem Simulationsbett, betreut von Dulcie Anwin. Diese entdeckt Dreads geheimgehaltenen Mordfilme und weiß plötzlich, was ihr selbst blühen wird. Gerade, als Dread, kurz mal aufgestanden, sie beim Betrachten der grausigen Filme ertappt, läutet Calliope Skouros, eine griechischstämmige Polizistin, die auf Dreads Spur gekommen ist, an der Tür. Dread sticht sie nieder und schießt auf Dulcie. Doch Calliope kann mit letzter Kraft noch einen Notruf an die örtliche Polizei absetzen, der ihrer beider Rettung (die Mörderin Anwin überlebt allerdings nur querschnittsgelähmt, zur Strafe) und die Verhaftung Dreads bedeutet – der allerdings gerade noch rechtzeitig seinerseits in ein absolutes Koma gefallen ist (durch die Zerstörung des „Other“-Satelliten).

Wochenlang in einem Virtual-Reality-Tank

Ja, eine ganz beeindruckende Seite des Romans habe ich noch gar nicht erwähnt: Renie und !Xabbu machen ihre lange Reise durch die Simulationen von einem aufgelassenen Militärstützpunkt aus, den Sellars für sie ausfindig gemacht hat. Es ist eine unterirdische Anlage in einem südafrikanischen Berg, wo sich noch alte VR-Tanks befinden, in die man sich einschließen lassen kann. Man schwimmt da in einem speziellen Gel, das sich auf Computer-Befehl verformt, stellenweise hart wird, etc., sodass man den Eindruck auch körperlich vermittelt bekommt, den man durch die VR-Maske, die man am Kopf trägt, bildlich und geräuschmäßig vermittelt bekommt. Renie und !Xabbu werden da hineingesteckt, betreut werden sie von zwei alten Männern: Renies Vater und Jeremiah Dako, dem afrikanischen Diener einer in Band eins unter mysteriösen Umständen verstorbenen Bekannten von Renie. Renies Vater Joseph büchst einmal aus, um Stephen im Krankenhaus zu sehen, wird dabei von Renies ehemaligem Freund Del Ray Chiume gekidnappt, der dann aber friedlich wird und Joseph auf den Berg zurückbringt. Dort müssen sich die drei dann gegen grausame Mörder zur Wehr setzen, was nur möglich ist, weil Sellars im letzten Augenblick, als die Schlacht um Otherland schon siegreich geschlagen ist, das Militär alarmiert, das die versteckte Einrichtung von den Mördern säubert und Renie, !Xabbu und die drei Männer rettet.

Tad Williams – ein moderner Tolkien

Zuletzt sei noch erwähnt: Tad Williams schrieb den Roman im Zeichen von J. R. R. Tolkien. In gewisser Weise ist er eine moderne Fassung von „Der Herr der Ringe“, und Williams lässt das auch anklingen, indem er Tolkiens Werk als Lieblingsbuch von Orlando Gardiner einführt. Am Schluss hat sich der virtuelle Orlando in Rivendell, dem Elfen-Palast aus dem „Herrn der Ringe“ einquartiert, wo er mit seinen real noch lebenden Eltern virtuell in einer rührenden Szene zusammentrifft.

Tad Williams: Otherland. 4 Bände. Klett-Cotta 2004.

Die Originaltitel lauten: City of Golden Shadow. River of Blue Fire. Mountain of Black Glass. Sea of Silver Light.  Die Bände erschienen erstmals 1996, 1998, 1999, 2001.

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