Schlagwort-Archive: Liebesroman

Jakob Wassermann: Faber oder Die verlorenen Jahre

Wolfgang Krisai: Mann im Restaurant. 2013. Bleistift.

„Faber oder Die verlorenen Jahre“, erstmals veröffentlicht 1924 bei S. Fischer, ist ein Roman über schwierige Menschen, die mit ihrem Leben kaum zurechtkommen. Diese Menschen sind Eugen Faber, seine Frau Martina und deren Haushälterin und Freundin Fides.

Flucht aus Sibirien

Eugen Faber kehrt zu Beginn des Romans nach sechs Jahren Gefangenschaft und Flucht im Jahr 1920 nach Hause zurück. Er war bereits ganz am Anfang des 1. Weltkriegs in russische Kriegsgefangenschaft geraten und nach Sibirien verschleppt worden, von wo ihm eine abenteuerliche Flucht nach China gelang, von wo er nun endlich nach Hause zurückkehren konnte. Seit Längerem schon steht er aber mit seiner Frau in brieflichem Kontakt. Allerdings ist seine Frau keine große Briefschreiberin, sondern berichtet nur trockene Fakten.

An eine Sekte verloren

Diese haben aber schon genügt, um Eugen das Schlimmste fürchten zu lassen: dass er seine Frau an eine Art Sekte verloren habe.

Deshalb geht er zu Beginn auch nicht zu ihr, sondern zu seinem ehemaligen Lehrer und Freund Fleming und danach zu seiner Mutter Anna. Diese Mutter ist ein spezieller Fall: Sie war eine Feministin der ersten Stunde, militante Vertreterin der antiautoritären Erziehung ante litteram und ist nun eine schwierige Pensionistin, die im Haus ihrer Tochter Maria, die einen reichen Konservativen geheiratet hat, eine gerade noch geduldete Person ist.

Der diebische Neffe

In diesem Haus gibt es auch noch den Sohn von Eugens Bruder Roderich, Valentin, der etwa in der Mitte des Romans aus dem engen Leben ausbricht und verschwindet, später auftaucht und ein Diamantencollier aus der Schmucklade Marias stiehlt, das dieser von ihrer Schwiegermutter geliehen worden war. Valentin wird allerdings schnell überführt und dann von Fides, die ihn geschickt beredet, zur Herausgabe des Schmuckes überredet. Diese Szene ist ein entscheidender Punkt im Leben Eugens, der bei der Ausforschung und Überführung des Diebes mitgewirkt hat.

Entfremdung

Eugen ist nämlich inzwischen natürlich doch nach Hause zu seiner Frau Martina zurückgekehrt, doch er muss feststellen, dass ihm seine Frau entfremdet ist. Da sie aber nichts erzählt, bleibt ihm völlig schleierhaft, was ihn an ihre neue Aufgabe bindet: Sie ist zuständig für die Auswahl jener obdachlosen Kinder, die in ein von einer „Fürstin“ geleitetes Kinderdorf aufgenommen werden. Die Fürstin übt auf ihre Umgebung eine Wirkung aus, die jener eines Sektengurus ähnlich ist. Man traut ihr geradezu Wunder zu, jedenfalls aber die Kraft, jeden Menschen allein durch ihre Gegenwart und ihre Worte grundlegend zu verändern. So hat sie nicht nur Martina, sondern auch Fides in ihren Bann gezogen. Fides allerdings hat die Fürstin die Stelle bei Martina verschafft, die für ihren Sohn Christoph während ihrer Abwesenheit eine Betreuungsperson braucht.

Eugen beachtet Fides zunächst kaum. Er widmet sich eher seinem kleinen, kaum mehr als sechsjährigen Sohn, der manchmal mit unglaublich altklugen Reden irritiert. Seine Mutter hat Eugen auch eine Stelle als Beamter verschafft, in der er für irgendwelche baulichen Angelegenheiten zuständig ist, was seinem Beruf als Architekt immerhin ungefähr entspricht.

Offenheit – Nähe – Kuss

Nach einigen Monaten fährt Martina mit der Fürstin nach London, wo sie mit Geldgebern verhandeln. Während dieser zwei Wochen kommt es – wenig überraschend – zu immer tieferen und intimeren Gesprächen zwischen Fides und Eugen. Fides erzählt ihm ihre unglückliche Lebensgeschichte, Eugen eröffnet ihr Einblicke in seine gegenwärtigen Beziehungsprobleme mit Martina. Diese Offenheit stellt eine solche Nähe her, dass es kein Wunder ist, dass Eugen in der angespannten Situation nach Valentins Diebstahl so froh ist, dass Fides diesen zur Vernunft bringen konnte, dass er sie schließlich umarmt und küsst.

Am nächsten Tag kommt Martina verfrüht aus London zurück. Sie merkt sofort, dass hier irgendetwas geschehen ist. Fides wiederum sucht bei der Fürstin Rat, die nun Eugen zu sich bittet.

Flucht vor der Entscheidung

Fides schlägt Eugen vor, Martina solle entscheiden, ob Eugen bei ihr oder bei Fides bleiben solle. Die Fürstin rät Eugen überraschender Weise dazu, die Beziehung zu Fides bis zu Neige durchzuleben, jetzt, wo sie schon einmal angefangen sei.

Völlig aufgewühlt verlässt Eugen die Fürstin und quartiert sich vorläufig bei Fleming ein. Als er seine Sachen von zu Hause holen will, trifft er dort die beiden Frauen an. Er sagt, dass er hier nicht bleiben könne, sondern dass Fides bei Martina bleiben müsse.

Martina reagiert „mit einem Ton zwischen Schmerz und Jubel, klindlichem Schmerz und strahlendem, geheimnisvollem Jubel: ‚Fides, wach auf! Fides, wach auf! Weißt du es denn? Hast du’s gehört? Er ist fort, der Liebste! Der Aller-Allerliebste ist von mir fortgegangen…‘ / Und sie küsste Fides und lachte und schluchzte dabei. Es war wie Verrücktheit. / Fides sah sie mit schwerem Blick verwundert an und senkte das Haupt.“ (S. 394)

Sehr offenes Ende

Das ist das Ende des Romans. Der seltene Fall eines sehr offenen Roman-Endes. Denn Fides kann doch wohl nicht bei Martina bleiben, wie sich Eugen das vorgestellt hat. Aber kann sie zu Eugen ziehen? Das verbietet ihr der Respekt vor Martina. Und diese? Ist sie nun froh, Eugen los zu sein, oder wird sie gerade vor Schmerz verrückt?

Der Roman ist in einer gut lesbaren Sprache geschrieben, kein Wunder, dass Wassermann zu seiner Zeit zu den meistgelesenen Schriftstellern deutscher Sprache gehörte.

Jakob Wassermann: Faber oder Die verlorenen Jahre. Roman. Nachwort von Insa Wilke. Manesse, Zürich, 2016. Manesse Bibliothek der Weltliteratur. 411 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Mann im Restaurant. 2013. Bleistift.

 

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Deutsche Literatur

Tolstoi: Anna Karenina. Fertiggelesen.

Wolfgang Krisai: "Anna Karenina". Keira Knightley als A. K. vor einer Dampflok. Gouache.

Wolfgang Krisai: „Anna Karenina“. Keira Knightley als A. K. vor einer Dampflok. Gouache.

Geschafft! Gerade beendete ich jetzt „Anna Karenina“ von Lew N. Tolstoi, das ich am 13. Jänner auf Italienisch begonnen hatte.

Meine deutsche Ausgabe (aus der Reihe „Winkler Weltliteratur“, Winkler, München, 8. Aufl. 1989) kaufte ich am 12. Jänner 1995 bei den Weißen Buchwochen um 150 Schilling und ärgerte mich schon damals darüber, dass sie nicht gebunden, sondern nur geklebt ist. Sie ersetzte eine Flohmarktausgabe mit Plastikeinband (an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnern kann). Damals las ich den Roman zum ersten Mal und hatte ihn dank der Semesterferien innerhalb einer Woche bewältigt. Das steht im Tagebuch von damals.

Vor rund einem Jahr – oder waren es schon zwei? – hatte ich einen weiteren Versuch gemacht, war aber nur bis zur Hälfte gekommen und gab dann auf.

Film „Anna Karenina“ mit Keira Knightley

Heuer kam der Anna-Karenina-Film mit Keira Knightley in der Titelrolle heraus, den wir uns gleich ansahen und begeistert waren. Eigentlich wollte ich den Roman noch schnell vorher lesen, doch es war eigentlich von vornherein klar, dass dies ein aussichtsloses Vorhaben war. Also kam mir der Film dazwischen und beeinflusste meine Lektüre natürlich. Ich hätte mir allerdings erwartet, dass sich die Filmfiguren stärker über die eigenen Vorstellungen von den Figuren legen, als es dann tatsächlich der Fall war. Die Figur des Lewin gefiel mir im Film überhaupt nicht, er war zu sehr dem Bild eines Fanatikers nachgezeichnet, was er zwar teilweise ist, aber dennoch ein sehr sympathischer. Doch der Film-Lewin verblasste schnell in meinem Gedächtnis und machte wieder meinem Lewin Platz, der – ehrlich gesagt – recht nebulos ist. Überhaupt entwickeln sich Romanfiguren in meinem Bewusstsein nicht zu detailliert gezeichneten Bildern, gar „Figuren“, sondern bleiben ziemlich vage. Ob das bei anderen Lesern auch so ist? Eher schon überlagerte die pausbäckige Film-Kitty die doch viel weniger kindliche Figur des Romans ungebührlich.

Anna-Karenina-Bild

Anna hingegen wird durch Keira Knightley, finde ich, meisterhaft und äußerst treffend verkörpert. Sie ist schön, hat einen Hauch von Verführerischem an sich, aber auch einen nicht geringeren Hauch von Vulgarität, und genau diese Mischung lässt sie ja in ihr Verhältnis mit Wronskij stolpern. Mich wiederum verführte sie dazu, ein Bild von Anna Karenina zu malen, das die für einen Ball herausgeputzte Frau vor dem dampfumwölkten Triebgestänge einer riesigen Lokomotive zeigt: eine „Vision“ des Kommenden, und das noch dazu im doppelten Sinne: einerseits ist Tod Annas angedeutet, andererseits auch die Zukunft der Eisenbahn, denn die gemalte Lokomotive stammt aus viel späterer Zeit als jener des Romans. Außerdem wirft sich bei Tolstoi Anna nicht vor die Lok, sondern gezielt zwischen die Räder eines Waggons eines vorbeifahrenden Personenzugs. Warum das, könnte man sich fragen. Ich vermute, dass eine Lok damals einen „Kuhfänger“ vorne dran hatte und Anna daher nur vom Gleis geworfen hätte, ohne sie gleich zu töten. Und ein Sprung zwischen die Waggonachsen war möglich, weil der Zug erstens innerhalb der Station sehr langsam fuhr, andererseits am Waggonboden noch keine Kästen, Leitungen, Verschalungen, etc. angebracht waren, die verhindert hätten, dass man sich da überhaupt darunterwerfen konnte.

Psychologisches Meisterwerk

Dass sich mir der Roman immer mehr erschlossen hat, verdanke ich einer Bemerkung eines Kollegen, der sagte, er bewundere an dem Buch die überaus genauen psychologischen Schilderungen. Und das stimmt wirklich. Tolstoi ist ein Meister der seelischen Tiefen – und Untiefen! Er zeigt die Vielschichtigkeit psychischer Vorgänge. Da sagt einer etwas, meint das Gegenteil, fühlt etwas Drittes und entschließt sich zu einem Vierten, und das alles mehr oder weniger synchron. Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen, seien es nun Liebe oder Hass oder irgendetwas dazwischen, und auch die gesellschaftlichen Beziehungen mit ihrem subtilen Spiel von Ausgesprochenem und Ungesagtem arbeitet Tolstoi unglaublich genau heraus. Natürlich muss ein Werk, das so genau ist, gewaltig anschwellen. Zumal der Roman von sehr vielen Figuren bevölkert wird und noch dazu eigentlich „zwei Romane in einem“ ist.

Die Handlung um Anna

Da ist zunächst die Handlung um den Ehebruch und die Liebe Annas: Anna ist die Hauptfigur, die beiden Männer sind Graf Alexej Wronskij und ihr Ehemann Alexey Alexandrowitsch Karenin. Das Nachwort des Romans weist darauf hin, dass Tolstoi die „Schuld“ am schrecklichen Ausgang nicht allein Anna aufbürdet, sondern allen dreien. Karenin ist ein grausig steifer Beamtentyp übelster Ausprägung, der für Anna im Grunde kein Verständnis hat und am Ende des Romans im Zirkel der Gräfin Lydia Iwanowna seinen Platz findet, wo scheußliche christliche Bigotterie herrscht und von Nächstenliebe keine Spur mehr ist, wenngleich man sie sich plakativ auf die Fahnen heftet. Und Wronskij ist ein Luftikus, der von seiner Liebe zu Anna selbst überrollt wird. Das ist eigentlich sehr seltsam, dass er tatsächlich zu Anna steht, statt sie wieder fallen zu lassen, als die Sache kompliziert wird. Er liebt sie also wirklich, aber ihre Liebe scheitert daran, dass sie sie zu gesellschaftlichen Außenseitern macht, weil Karenin nicht in die Scheidung einwilligt und Anna ihre Liebe zu Wronskij nicht verstecken will und kann. Traurige Randgestalten dieser Sphäre sind die beiden Kinder Annas: ihr älterer Sohn Serjoscha, der unter der Trennung leidet, sich aber damit abfinden muss (wie er auf den Tod der Mutter reagiert, erfährt man nicht), und ihre Tochter Anni, die sie mit Wronskij hat, aber nicht besonders liebt. Karenin nimmt sie am Schluss zu sich, aus Pflichtbewusstsein. Das wird auch nicht zum reinen Glück geführt haben.

Die markanten Schritte dieser Anna-Handlung sind: die erste Begegnung mit Wronskij am Bahnhof in Moskau; der Tanz beim Ball, wo sie einander verfallen; das Pferderennen, wo Wronskij stürzt und Anna ihre Aufregung nicht mehr verbergen kann und daher anschließend Karenin den Ehebruch gesteht; die Geburt Annis und der dabei fast eintretende Tod Annas, die Karenin und Wronskij zur Versöhnung zwingt, die aber nicht lange vorhält; die Italienreise; die Zeit auf Wronskijs Landgut, wo dieser sich zum vorbildlichen Gutsherrn entwickelt, der ganz auf Innovation setzt und sogar auf eigene Kosten ein kleines Krankenhaus errichtet; dann wieder Moskau.

Besonders beeindruckend ist Annas Verwirrung vor ihrem Selbstmord. Sie phantasiert sich in eine unbegründete, aber durch kleine Details immer wieder bestätigte Eifersucht hinein, die sie erst recht durch eingebildete Aussagen Wronskijs (was er „eigentlich“ hätte sagen wollen, aber nicht zu sagen gewagt habe) anstachelt. Wie in einem modernen Montage-Roman mischen sich Wirklichkeitsfetzen mit dem wirren Bewusstseinsstrom Annas, als sie mit der Kutsche zum Bahnhof rast, von einem Strudel mitgerissen, den sie nicht mehr steuern kann. Sie fährt ein Stück mit der Bahn, steigt an der Station, wo Wronskij seine Mutter besucht, aus, weiß nicht mehr, was sie nun machen soll, irrt auf dem Bahnsteig herum, innerlich brodelnd und kaum mehr Herr ihrer Sinne, steht plötzlich am Ende des Bahnsteigs, klettert zu den Schienen hinab, ein Zug kommt heran, sie lässt ihre Reisetasche fallen und wirft sich gezielt zwischen die Räder eines Waggons. Ein gewaltiger Schlag trifft sie. Ende. Des siebten Teils. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Tolstois Roman dazu beigetragen hat, Selbstmord nicht mehr (nur) als schuldhaftes Verhalten zu sehen, sondern eher als Ergebnis eines Zustandes geistiger Verwirrung. (Von wenigen, wohlüberlegten Selbstmorden abgesehen.)

Im achten Teil, der zwei Monate nach Annas Tod spielt, erfährt man, was sich nach dem Tod Annas entwickelt:

Wronskij ist völlig zerstört, will sein Leben aber wenigstens für etwas „Sinnvolles“ hingeben, daher zieht er in den Krieg gegen die Türken. (Mir fällt da ein anderer großer Roman ein, wo der Held am Ende in den Krieg zieht: Thomas Manns „Zauberberg“. Ob da ein Zusammenhang besteht?)

Der Roman schließt aber mit einer Szene auf dem Landgut Lewins, womit die guten Kräfte im Endeffekt die Oberhand behalten. Und damit zur zweiten großen Handlung des Romans:

Lewin und Kitty

Konstantin Lewin, genannt Kostja, ist ein guter Freund des Bruders von Anna, Stiwa, der wiederum mit Dolly verheiratet ist (wir lernen sie gleich zu Beginn kennen, wo Dolly in heller Aufregung ist, weil sie draufgekommen ist, dass Stiwa sie betrügt, und Anna überredet sie, bei ihrem Mann zu bleiben), die eine jüngere Schwester namens Kitty hat, in die Lewin verliebt ist. Diese hat aber gerade ein Auge auf den jungen Grafen Wronskij geworfen, der vor allem der Mutter als wünschenswerter Zukünftiger erscheint, während Lewin da weniger hoch im Kurs steht.

Lewin wagt es dennoch, Kitty einen Heiratsantrag zu machen, wird aber abgewiesen. Erst ein Jahr später, als sich die Wronskij-Sache ja längst erledigt hat, erhört sie Lewin, der sich mühsam durchgerungen hat, die Schmach der ersten Abweisung hinunterzuschlucken und die inzwischen vor Kummer ganz kranke Kitty neuerlich um ihre Hand zu bitten. Diesmal willigt sie ein – und es entsteht nach der Hochzeit ein immer ersprießlicheres Leben auf Lewins Landgut.

Lewin hat viele Eigenschaften, die ihn sympathisch machen: Er ist ein ernsthafter Mensch, der jede Heuchelei verabscheut, er grübelt über Gott und die Welt nach – kommt in dieser Hinsicht auch im letzten Teil des Romans zu einer wichtigen Erkenntnis; er möchte seinen Landleuten ein guter Gutsherr sein; er liebt Kitty uneingeschränkt, mehr, als sie sich selbst vorstellen kann; er liebt die Natur (wozu damals auch eine große Begeisterung für die Jagd gehörte), er arbeitet sogar gelegentlich selbst mit der Sense, gemeinsam mit seinen Bauern, und kommt dabei in einen richtigen „Flow“ des Grasmähens hinein, der ihn glücklich macht.

Lewins Erkenntnis am Schluss finde ich interessant: Er fühlt sich ja als Agnostiker, als aber Kitty in Geburtswehen liegt und entsetzlich schreit, betet er plötzlich inbrünstig zu Gott. Dieses Faktum erschüttert seinen Unglauben. Als er dann noch von einem Bauern gesagt bekommen, dass es nur darauf ankomme, das Gute zu tun, und Lewin sei einer, der immer nur Gutes tue, da dämmert ihm, dass sein Unglaube nur eine intellektuelle Sache ist, er aber instinktiv richtig, nämlich gut und gläubig, gelebt hat, und so will er nun auch bewusst leben. Mit dieser Erkenntnis – und der gleichzeitigen, dass das nun nicht heißt, das Leben werde konfliktfrei ablaufen – endet der Roman.

Tolstoi berührt in diesem Roman sehr viele Lebenssphären und schildert sie zum Teil schon mit satirischen Einschlag, etwa wenn es um das Verhalten der Politiker, Beamten, Gesellschaftslöwen und -löwinnen oder der scheinheiligen „Gutmenschen“ geht.

Lachen über solche satirischen Stellen und Weinen über manches Rührende liegen da oft nicht weit auseinander. Wie im wirklichen Leben, ist man versucht zu sagen.

Und genau so stelle ich mir einen „großen Roman“ vor: lebensprall, vielfigurig, gedankenschwer, abwechslungsreich, packend.

Lew N. Tolstoi: Anna Karenina. Winkler Verlag, München, 8. Aufl, 1989. Reihe: Winkler Weltliteratur. 970 Seiten (ohne Nachwort), 1019 Seiten (mit Nachwort).

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Russische Literatur

Camilleri: Il tailleur grigio

Wolfgang Krisai: Lesender Mann. Bleistift.

Wolfgang Krisai: Lesender Mann. Bleistift.

Diesen Roman kaufte ich mir 2008 während der Projektwoche mit der 4A in Venedig, und zwar in der Buchhandlung im Einkaufszentrum in Mestre.

Jetzt las ich ihn innerhalb eines Tages, nämlich gestern. Ausgezeichneter Roman. Der einen im Unklaren lässt, was da wirklich vor sich gegangen ist.

Ein älterer Herr erlebt den ersten Tag in der Pension – und wird durch einen vor Jahren erhaltenen anonymen Brief, in dem er auf einen Seitensprung seiner um 20 Jahre jüngeren Frau Adele hingewiesen wurde und den er jetzt wieder unter die Finger bekommt, zum Nachdenken und Erinnern angeregt. Wir erfahren, dass er Adele, die jung verwitwet war, kennen lernte, nachdem ihr Mann gerade verunglückt war. Sie trug damals ein graues Kleid. Bald heiraten sie, zunächst gibt es wilden Sex, Adele ist ganz unersättlich, doch bald flaut das ab, die Villa wird in zwei getrennte Wohnungen geteilt, die nur durch eine Tür verbunden sind. Adele macht Seitensprünge, u. a. sogar hier im Haus mit einem entfernt verwandten Architekturstudenten, den sie einquartiert hat.

Der Mann fühlt sich in den nächsten Tagen komisch, konsultiert einen Arzt, wird ins Krankenhaus gebeten, untersucht, operiert, wieder untersucht: Krebs. Im Endstadium.

Er wird nach Hause entlassen, Adele pflegt ihn hingebungsvoll, verabreicht ihm höchst persönlich alle Medikamente und Spritzen. Als er einmal an ihrem Schreibtisch zu sitzen kommt, liegt dort ein angefangener Brief Adeles an eine Freundin, in dem sie sagt, sie habe erst jetzt gemerkt, dass sie ihn liebe.

Und am nächsten Tag entdeckt er im Papierkorb eine detaillierte Liste, was nach seinem Ableben alles zu erledigen sei. Das ernüchtert ihn. Er will sich umbringen, doch die Pistole ist – wohl von Adele – aus seinem Schreibtisch entfernt worden.

Wenige Tage später geht es mit ihm zu Ende – und Adele trägt wieder ihr graues Kleid, wie immer, wenn sie vom Tod betroffen wurde.

Was ich mich da frage: Hat sie ihren Mann vergiftet? Oder ist sie wirklich eine plötzlich liebevolle, hingebungsvolle Pflegerin gewesen? Die kalte Liste mit den To-Do’s macht das unwahrscheinlich, sie wirkt berechnend. Die tolle Liebe könnte vorgespielt sein – im Bewusstsein, dass Adele nicht lange schauspielern muss.

Der Roman ist in der typischen sizilianisch beeinflussten Sprache geschrieben, die ich schon von den Montalbano-Krimis her kenne. Manchmal muss man ein bisschen nachdenken, was die Wörter bedeuten könnten (veddro zum Beispiel bello), auf einige bin ich überhaupt nicht draufgekommen. Man kann jedenfalls nicht im Wörterbuch nachschlagen, denn da stehen diese dialektalen Ausdrücke nicht drin.

Buchdaten:

Camilleri, Andrea: Il tailleur grigio.

Romanzo.

Mondadori, Milano 2008.

141 Seiten.

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Italienische Literatur

Pluhar, Erika: Als gehörte eins zum anderen.

Robert Berény: Bildnis des Komponisten Leo Weiner, 1911; Bleistiftskizze.

Robert Berény: Bildnis des Komponisten Leo Weiner, 1911; Bleistiftskizze.

Die Geschichte besteht aus dem Rückblick einer Burg-Schauspielerin auf eine heftige Liebesgeschichte zu einem südländischen Mann (dessen Nationalität man nicht erfährt und auch nicht erschließen kann, denn seine Frau heißt Marie, seine Muttersprache ist der Schauspielerin aber überhaupt nicht verständlich, es kann also kein Spanier, Portugiese oder Italiener sein, vielleicht einer vom Balkan oder Griechenland, weniger wahrscheinlich ist eine außereuropäische Herkunft), den sie in Wien in ihrem Stammlokal kennenlernt.

Kurz diese Liebeshandlung: Der Mann gewinnt die Frau für sich, weil er sich besonders gut in deren Burn-out-Situation einfühlen kann und mit wenigen Worten deren unglückliches Lebensgefühl zum Ausdruck bringt: „Du bist klein“, du bist „schattig“, usw. Dabei schreitet er rasch in der Annäherung fort, es kommt bald zur ersten gemeinsamen Nacht, zunächst im Wirtshaus, dann in der unordentlichen Wohnung des Mannes (wo die Frau einen Damenbademantel hängen sieht – das ist einer der Regiefehler des Romans, denn die Gattin scheint ja nie in Wien zu sein, sondern eine ganz auf ihre Heimat beschränkte Rolle zu spielen, sie kommt in der Geschichte auch kaum vor), ein paar Tage auch in der Wohnung der Frau. Doch unvermittelt sagt ihr der Mann beim Abschied, er müsse jetzt für einige Monate weg. Die Frau fällt aus allen Wolken. Einige Zeit später ruft der Mann an und lädt sie ein, zu ihm in ein Hotel zu kommen in einem tropischen Land an Meer (so scheint’s, es wird nämlich nirgends gesagt, welches Land es ist. Griechenland? Türkei? Thailand?). Tatsächlich fliegt die Frau hin, es gibt ein stürmisches Wiedersehen im abgelegenen Hotel, wo man den Mann sehr gut kennt und sich über den Damenbesuch überhaupt nicht wundert. Letzte Szene: Die beiden kutschieren mit dem Auto der Hotelbesitzerin an den Strand, die Frau geht ins Wasser, der Mann bleibt im Schatten einer Laube liegen. – Auf der dann folgenden letzten Seite erfährt man, die beiden hätten sich ein Jahr später in diesem Hotel nur noch gestritten und dann getrennt, die Frau habe die Schauspielerei aufgegeben.

In diese Liebeshandlung, die die Frau in Ich-Form schreibt und in der sie den Mann immer mit „du“ anredet – außer an einer einzigen Stelle, wo sie in die Er-Form verfällt und das sofort selbst kommentiert – in diese Liebeshandlung ist eine zweite Handlung hineingeschnitten: Da erzählt ein auktorialer oder eher personaler Erzähler (eigentlich wohl eine Erzählerin) über die aktuelle Schreibarbeit der Frau an ihrer Liebesgeschichte, wobei er die Gedanken der Frau in Ich-Form wiedergibt. Das ist also eine ganz nette Art, die Möglichkeiten der Erzählhaltungen auszuprobieren.

Man erfährt in dieser zweiten Ebene allerdings nicht viel, denn es werden nur die jeweiligen Befindlichkeiten der Frau, die oft bis in den nächsten Morgen hinein an ihrer Geschichte schreibt und dann entsprechend k.o. ist, beschrieben. Die letzten Seiten werden dann von diesem Strang eingenommen und sie würgen die Liebesgeschichte ruckzuck ab, das ist ziemlich seltsam. Das amouröse Crescendo, das in der Liebeshandlung bis dahin aufgebaut wird, ist der Autorin hier plötzlich egal, und wie ein Dirigent bei einer Probe, der mitten im Stück abwinkt, haut sie ihre Liebeshandlung zusammen und macht Schluss. Ist Pluhar da die Puste ausgegangen? Eine „innere Notwendigkeit“ zu diesem Blitzschluss sehe ich in dem Buch jedenfalls nicht.

Das Buch ist leider sehr wenig „welthaltig“, über die Tätigkeit als Schauspielerin erfährt man wenig bis nichts, über private Hintergründe auch nichts, über Wien auch nichts, der Text dreht sich manisch einzig und allein um die weltabgehobene Liebe zu diesem Mann, über den man natürlich auch nicht viel erfährt.

Buchdaten:

Pluhar, Erika: Als gehörte eins zum anderen.

Eine Geschichte.

München, dtv, 1999.

Erstausgabe 1991.

204 Seiten im Großdruck.

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Deutsche Literatur

Modignani: Un amore di marito

Wolfgang Krisai: Sängerin, Tuschestift.

Wolfgang Krisai: Sängerin, Tuschestift.

Dieses kurze eBook kaufte ich mir vor ein paar Tagen um 4.99 Euro im Internetbookshop Italia.

Es erwies sich als italienische Chicklit, und es war eine nette, unkomplizierte Lektüre. Wie es sich für eine Erzählung gehört, war die Handlung einsträngig: Die Ich-Erzählerin, eine Verkäuferin aus einer Luxusboutique in Milano, etwa 40 Jahre alt, sieht nach 18 harmonischen Ehejahren ihren Mann in einem Restaurant mit einer Blondine flirten. Sie steigert sich in die Gewissheit, betrogen zu werden, hinein, während ihr Mann ihr weiterhin den perfekten, liebenden Ehemann vorspielt. Das perfide Spiel des Mannes treibt sie in immer wildere Hassfantasien hinein, sie plant schon, ihn vom Balkon zu stürzen, wenn er wie jedes Jahr in einer waghalsigen Aktion den Balkon mit Weihnachts-Lichtgirlanden dekoriert.

Die SMS ihres Mannes, die sie regelmäßig ausspioniert, sprechen allerdings eine deutliche Sprache: seine Geliebte heißt Sarah, und sie vereinbaren sich immer wieder Treffen in der Mittagspause oder wann immer es geht – und da soll es dann richtig rangehen! Die zwei Tage vor Weihnachten muss der Mann nach Berlin in die Zentrale seiner Firma. Als die Erzählerin dann am Heiligen Abend vom Geschäft heimkommt, stellt sie fest, der Mann ist schon da. Er hat schon prunkvoll gedeckt – für drei Personen! Und er kocht ein tolles Abendessen, hat – was für ein Pech! – den Balkon schon dekoriert, und als es dann läutet, schickt er seine Frau zum Aufmachen. Und wer kommt? Die Blondine! Aber Sarah ist eine Sechzigjährige alte Jungfer aus Deutschland, die dem Mann im Schnellsiederkurs Deutsch beigebracht hat, was seine Firmenleitung von ihm verlangt hat, weil er einen verantwortungsvollen Posten in der Berliner Zentrale angeboten bekommen hat. Und er wird nun mit seiner Frau dort hinziehen. Happy End.

Buchdaten:

Modignani, Sveva Casati: Un’amore di marito.

Racconto.

eBook.

Ca. 60 Seiten.

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Italienische Literatur